Sektion 4: Konvolut – Ensemble – Objektkollektiv
Samstag, 30. März 2019, 11:45–12:15 Uhr, ZHG, Hörsaal 009
Sabine Jagodzinski, Warschau

Authentizität und Fehlstelle. Gedanken zu gewachsenen und unvollständigen Ensembles

Die gotische Pfarrkirche St. Thomas in Nowe Miasto Lubawskie (Neumark) im damaligen Königlichen Preußen wurde um 1600 von dem Adligen Mikołaj Działyński († 1604) und seiner Frau um eine Familienkapelle erweitert. Darin wird seiner mit einem rotmarmornen Wandgrabmal von Abraham v. d. Blocke gedacht. Sein Sohn Paweł Jan Działyński und dessen Witwe Jadwiga erneuerten 1638–43/51 Wandmalereien und Kapelle und stifteten u. a. Altäre. Das bedeutendste Objekt jedoch ist eine große, beidseitig bemalte Grabfahne für Paweł Jan Działyński, die Herkunft, Glauben und Verdienste des Verstorbenen rühmt. Als die Familie Czapski das Erbe der verwandten Działyński antrat, sorgte sie 1729 und 1734 für eine Restaurierung bzw. Erweiterung von Malereien, Altären und Kapelle. Auf diese Weise erhielten und verstärkten sie den memorialen Komplex. Beide Geschlechter verankerten sich vor Ort, präsentierten ihre Tugenden, propagierten ihre Konfession und betrieben zugleich Memoria wie Karriereförderung.
Dieses Beispiel zeigt, wie künstlerische Objekte mittels einer zielgerichteten Konvolutbildung über einen längeren Zeitraum (erst) als Ensemble zu größerer Wirksamkeit gelangen. Gleichzeitig wird deutlich, dass die Aufschichtung von Objekt- (und Personen-) Biografien nur durch die Tradierung durch die Zeit bewahrt bleibt. Neben der zeitlichen Komponente ist die räumliche zu berücksichtigen. Eine Objektgruppe benötigt einen „Wirk-Raum“ als Rahmen. Dabei stellt sich die Frage nach dessen Reichweite: Kann er über den Kirchenraum hinausgehen, über die Stadt bis hin in die Region reichen, sich auf andere Objektkollektive auswirken? Weiterhin stellt sich die Frage nach der Denkmalauthentizität, wenn Objekte z. B. aus konservatorischen Gründen ihre Gruppe verlassen. Neben Kirchen und sakralen Objekten sind von der Problematik in besonderem Maße auch Schlösser betroffen, deren Einrichtung zuweilen in situ, häufig aber in Ersatzräumen untergebracht oder durch Ersatzstücke ergänzt ist.
Der Beitrag entspringt zum einen aus der Arbeit an einem Forschungsprojekt zu adligen Repräsentationskulturen im Königlichen Preußen, das mit zahlreichen Fehlstellen in den historischen Objektgruppen arbeiten muss. Zum anderen greift er eine Podiumsdiskussion auf, die im Dezember 2017 am Deutschen Historischen Institut Warschau stattfand und sich mit Königsschlössern und Adelssitzen sowie deren Ausstattung unter dem spezifischen Gesichtspunkt des Umgangs mit partiellen oder kompletten Verlusten befasst hat.
Kurzbiografie Sabine Jagodzinski
2001–2007Studium der Kunstgeschichte (Schwerpunkt Ostmitteleuropa) und Neueren deutschen Literatur in Berlin (Magisterarbeit: „Die illustrierte Apokalypse Heinrichs von Hesler im Deutschen Orden. Studien zu Bild, Text und Kontext“)
2007–2012Wiss. Mitarbeiterin am jetzigen Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa (GWZO) in Leipzig, Projektgruppe „Osmanischer Orient und Ostmitteleuropa. Vergleichende Studien zu Perzeptionen und Interaktionen in den Grenzzonen“
2013Promotion an der Humboldt-Universität zu Berlin („Kommemoration der osmanischen Expansion in der polnisch-litauischen Adels- und Hofkultur. Das Beispiel der Residenz Żółkiew und der Geschlechter Żółkiewski, Sobieski und Radziwiłł (1595–1783)“)
2012–2014Wiss. Volontärin bei der Stiftung Preußische Schlösser und Gärten Berlin-Brandenburg in Potsdam (Abt. Schlösser und Sammlungen sowie Schlossmanagement)
seit 2015Wiss. Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Warschau im Forschungsbereich „Regionalität und Regionsbildung“ mit einem Projekt zur Adelsrepräsentation im Königlichen Preußen (17./18. Jh.)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit in Ostmitteleuropa; adlige Erinnerungs- und Repräsentationskulturen; Regionalitätskonzeptionen; Orientperzeption; Bild-Text-Beziehungen
Publikationsauswahl
  • Die Türkenkriege im Spiegel der polnisch-litauischen Adelskultur. Kommemoration und Repräsentation bei den Żółkiewski, Sobieski und Radziwiłł (Studia Jagellonica Lipsiensia 13), Ostfildern 2013 (zugl. Diss.).
  • Ein polnischer „Thron der Andenken“ aus dem Jahr 1783, in: Robert Born und Sabine Jagodzinski (Hgg.), Türkenkriege und Adelskultur in Ostmitteleuropa vom 16. bis 18. Jahrhundert (Studia Jagellonica Lipsiensia 14), Ostfildern 2014, S. 299–315.
  • „unsers Dagelÿs beÿ dieser Kunst erworbene renommie“ – Gérard Dagly und seine Berliner Hofwerkstatt, in: M. Kopplin (Hg.), Gérard Dagly (1660–1715) und die Berliner Hofwerkstatt. Ausstellungskat. Museum für Lackkunst Münster, München 2015, S. 17–29.
  • (mit Aleksandra Kmak-Pamirska) Überlegungen im Nachklang der Konferenz „Regionalität als historische Kategorie. Prozesse, Diskurse, Identitäten im Mitteleuropa des 16.–19. Jahrhunderts“, in: Geschichte und Region 25 (2016), Heft 2, S. 128–136.
  • Adlige Repräsentationskulturen des Königlichen Preußen im 17. und 18. Jahrhundert. Regionale Annäherung an ein Problemfeld, in: Heide Wunder et al. (Hgg.), Adelskulturen im Baltikum, im Druck.