Berufsgruppe Hochschulen und Forschungsinstitute
Freitag, 29. März 2019, 13:45–14:10 Uhr, ZHG, Hörsaal 008
Ann-Sophie Lehmann, Groningen

Die Tugenden des Gallapfels. Kunst­ge­schichte als „ding-bildende“ Disziplin

Mit einer theoretischen Befragung der Dinge hat der „material turn“ das epistemische Potential materieller Beschaffenheit und materieller Prozesse klar in den Vordergrund gestellt. In der Folge ist das implizite Materialwissen der Kunstgeschichte selbstbewusst geworden und haben interdisziplinäre Dialoge mit der Anthropologie, der Soziologie und den Material Culture Studies zu einer objekt- und materialitätsbezogene Kunstgeschichte geführt.
Der Vortrag fragt nun nach dem nächsten Schritt, der Integration tatsächlicher Werke, Dinge und Materialien in Lehre und Forschung und wie diese Eingang in einen bisher hauptsächlich text-basierten Diskus finden können. Dazu werden die Geschichte und die Gegenwart der Bildung mit durch und über (künstlerische) Dinge in verschiedenen institutionellen Kontexten befragt: Wie wurde und wird in der Kunstgeschichte und benachbarten Fächern (Archäologie, Religionswissenschaften, Kulturwissenschaften, Design, Materielle Kultur) mit Kunstwerken, Objekten und Materialien gelehrt und gelernt und wie ermöglichen Museen Zugänge zu epistemischen, ästhetischen aber auch empathischen Aspekten, indem sie Objekte in pädagogischen Zusammenhängen erfahrbar machen? Welche Rolle spielt objektgebundene Wissensvermittlung dort, wo Universität und Museum sich treffen: in den Lehrsammlungen?
Neuere kognitive Forschung zeigt, dass Dinge besser Wissen vermitteln als Abbildungen, weil sie eine vollständigere visuelle und haptische Wahrnehmung ermöglichen. Sind historische Praxen und vielleicht sogar die Entstehung des Faches vor dem Hintergrund solcher Forschung anders zu verstehen? Vom mittelalterlichen Rezeptbuch über Reformpädagogik und Bauhaus bis hin zur Geschichte von Studiensammlungen, Materialbibliotheken und der „Übung vor Originalen“ versucht der Vortrag das Phänomen der Dingbildung für eine objekt-orientierte Kunstgeschichte zu erschließen und fragt, ob eine objektbezogene Lehre helfen kann, die immer noch substanziellen, innerfachlichen Grenzen zwischen Universität, Museum, Atelier und Labor, zu überwinden.
Kurzbiografie Ann-Sophie Lehmann
2004Promotion an der Universität Utrecht („Jan van Eyck and the Nude“)
2002–2015Assistant Professor, ab 2011 Associate Professor am Institut für Medien & Kulturwissenschaften der Universität Utrecht
seit 2015Professorin für Kunstgeschichte am Institut für Kunstgeschichte der Universität Groningen
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Geschichte und Theorie von Herstellungsprozessen und Materialien; Geschichte und Theorie der objektgebundenen Lehre
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit P. H. Chapman and F. Scholten) Meaning in Materials: Netherlandish Art 1400–1800 (The Netherlands Yearbook for the History of Art 62), Leiden 2013.
  • (mit Judith Spijksma) Flattening Hierarchies of Display: The Liberating and Leveling Powers of Objects and Materials, in: Stedelijk Studies 5 (2017), S. 1–18.
  • Objektstunden: Vom Materialwissen zur Materialbildung, in: Herbert Kalthoff et al. (Hgg.), Materialitäten. Herausforderungen für die Sozial- und Kulturwissenschaften, München 2016, S. 171–194.