Sektion 1: Zur Dinglichkeit des Codex in Mittelalter und Früher Neuzeit
Donnerstag, 28. März 2019, 10:15–10:45 Uhr, ZHG, Hörsaal 104
David Ganz, Zürich

In Bewegung: das Evangelienbuch als „portatives Vaterland“

Wenn man den Codex als Ding betrachtet, ist die Tragbarkeit des Buches eine seine hervorstechenden Eigenschaften. Diese Qualität schließt durchaus das Gewicht des Buches ein, dessen Überwindung heute oft als Effekt der Digitalisierung angepriesen wird. Zuallererst aber geht es um die Beweglichkeit der Bücher, um die Möglichkeit, Orte zu wechseln und zu verbinden, Räume zu eröffnen und räumliche Grenzen zu überschreiten. Wie Heinrich Heine in einer knappen Bemerkung über „die Juden, die [das heilige Buch] aus dem großen Brand des zweiten Tempels gerettet, und es im Exile gleichsam wie ein portatives Vaterland mit sich herumschleppten“ pointiert festhielt (Geständnisse, 1854), basieren Buchreligionen auf der Beweglichkeit des Buches, die es erlaubt, Bindungen von religiösen Gemeinschaften an feste heilige Orte aufzugeben oder zu lockern. Mein Vortrag wendet Heines Überlegung auf die Praktiken des christlichen Mittelalters und fragt danach, wie das Evangelienbuch einerseits in Ritualen als bewegliches Objekt inszeniert wurde, dem man die Ausdehnung des Christentums aus dem östlichen Mittelmeerraum in weit entfernte Regionen zuschrieb, es andererseits aber durch seine künstlerische Ausstattung als Objekt ausgewiesen wurde, das die heiligen Orte des Christuslebens und den jenseitigen Ort des Himmlischen Jerusalem mit den eigenen Orten der jeweiligen Kultpraxis zu verknüpfen vermag. Dabei werden Fallbeispiele behandelt, die durch Bilder, künstlerische Materialien und den Einschluss von Reliquien auf die Beweglichkeit des Buches Bezug nehmen.
Kurzbiografie David Ganz
1990–1996Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Klassischen Archäologie in Heidelberg, Marburg und Bologna
2000Promotion an der Universität Hamburg („Barocke Bilderbauten. Erzählung, Illusion und Institution in römischen Kirchen. 1580–1700“)
2006Habilitation an der Universität Konstanz („Medien der Offenbarung. Visionsdarstellungen im Mittelalter“)
2007–2013Heisenberg-Stipendiat der DFG
Vertretungsprofessuren in Bochum, Basel und Heidelberg
seit 2013Inhaber des Lehrstuhls für Kunstgeschichte des Mittelalters an der Universität Zürich
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Buchkunst und Buchreligion; mehrteilige Bildformen; Bild und Vision