Sektion 1: Zur Dinglichkeit des Codex in Mittelalter und Früher Neuzeit
Donnerstag, 28. März 2019, 14:00–14:30 Uhr, ZHG, Hörsaal 104
Bruno Reudenbach, Hamburg

Kanontafeln – Kodikale Pragmatik und bildliche Repräsentation

Eusebius von Caesarea erfand im frühen 4. Jahrhundert v. Chr. mit dem System der kanones ein synoptisches Erschließungssystem für den Text der vier Evangelien, das mit seiner Funktionsweise vollständig auf das in seiner Zeit noch neue Codexformat abgestimmt war, während es im Rollenformat mit seiner vom Codex fundamental unterschiedenen Gebrauchspraxis funktionsunfähig gewesen wäre. Daher waren die eusebianischen Kanontafeln auch ein wesentlicher Faktor für die Durchsetzung des Codex in der frühen christlichen Buchkultur.
Als Werkzeug für Synopse und Konkordanz der Evangelien hatten die kanones ihren Ursprung in der Gelehrtenkultur in Caesarea und waren dementsprechend auf Studium und gelehrte Lektüre abgestimmt, waren also ohne direkte liturgische Funktion. Dennoch wurden sie schon früh, wohl schon von Beginn an, zu einem festen Bestandteil von Evangelienbüchern, und sie blieben dies bis ins hohe Mittelalter. Wichtig ist dabei, dass dem eusebianischen Kanonsystem von vornherein eine visuelle Dimension eigen war, die wiederum für die Strukturierung des Codex und die visuelle Organisation des in ihm enthaltenen Textes Konsequenzen hatte. Die vor den Evangelien platzierten Kanontafeln waren ein über die unmittelbare pragmatische Funktion hinausgehender Buchanfang, der als Repräsentanz der heiligen Schrift auch programmatisch aufgeladen war. So blieb diese den Buchanfang markierende Seitensequenz auch Jahrhunderte später noch, partiell unter anderen Konditionen, von hoher Bedeutung, nicht zuletzt weil die Überlieferungsgeschichte der heiligen Texte und deren Bindung an den Codex auch im Mittelalter gegenwärtig blieb und reflektiert wurde. Dabei wurde das eusebianische System partiell umformatiert, seine Nutzbarkeit eingeschränkt oder neuen Zwecken angepasst. Die Erfindung des Eusebius ist damit nicht allein Zeugnis der Kontinuität christlicher Buchkultur, die im 4. Jahrhundert begann und sich bis ins Mittelalter fortsetzte. Die eusebianischen Kanontafeln in ihrer ursprünglichen Bindung an das Codexformat zeigen in ihrer mittelalterlichen Geschichte auch, wie flexibel und anpassungsfähig das Medium war, das sich die frühen Christen zur Verbreitung ihrer heiligen Schriften wählten.
Kurzbiografie Bruno Reudenbach
1970–1977Studium der Kunstgeschichte, Archäologie, Vor- und Frühgeschichte und Philosophie in Köln und Freiburg
1977Promotion an der Universität Köln („Piranesi und der Wandel in der Architekturvorstellung des 18. Jahrhunderts“)
1978–1986Wiss. Mitarbeiter im SFB 7 „Mittelalterforschung“ an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster
1986–2018Professor für Kunstgeschichte an der Universität Hamburg
seit 2018Seniorprofessor an der Universität Hamburg, Kunstgeschichtliches Seminar und SFB 950 „Manuskriptkulturen in Asien, Afrika und Europa“
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Kunst des Mittelalters; christliche Buchkultur im Mittelalter; Reliquienkult; Kunst und Liturgie; mittelalterliche Herrschaftsrepräsentation
Publikationsauswahl
  • Das Taufbecken des Reiner von Huy in Lüttich, Wiesbaden 1984.
  • Das Godescalc-Evangelistar. Ein Buch für die Reformpolitik Karls des Großen, Frankfurt a. M. 1998.
  • (Hg.) Karolingische und ottonische Kunst (Geschichte der bildenden Kunst in Deutschland 1), München 2009.
  • (Hg. mit Hanna Wimmer und Malena Ratzke) Studien zur Biblia pauperum (Vestigia Bibliae 34), Bern u. a. 2015.