Sektion 7: Zeichnungsforschung im digitalen Zeitalter
Samstag, 30. März 2019, 10:15–10:45 Uhr, ZHG, Hörsaal 104
Annemarie Stefes, Bremen

Kennerschaft 2.0: Niederländische Zeichnungen im Fokus – Kompetenz und Methodik im digitalen Zeitalter

Unter den Kunstgattungen ist die Zeichnung einzigartig in ihrer multiplen Funktionalität. Sie begegnet uns als Studie, Übungsblatt oder Skizze, aber auch als zweckbestimmte Vorarbeit, als Kopie, und natürlich als autonomes Kunstwerk. Zeichnungsforschung im Museum ist naturgemäß an das Objekt gebunden und untersucht in erster Linie Autorschaft, Authentizität, Datierung, Provenienz und Funktion. Die Auswirkungen der digitalen Revolution auf diese Aspekte sollen anhand von Beispielen aus der Praxis (Bestandskatalog niederländischer Zeichnungen im Rijksprentenkabinet, Amsterdam) erläutert werden. Dies betrifft vor allem das vergleichende Sehen als integralen Bestandteil der Zeichnungsforschung. Potentielle Referenzwerke können online konsultiert werden. Gut geführte Datenbanken erlauben das zielgerichtete Suchen nach Einzelmotiven, Vorlagen oder Alternativzuschreibungen. Selbst die intuitive Suche via Google führt nicht selten zum Aufspüren eines „missing link“.
Digitalisierung erleichtert auch den Umgang mit der eigenen Sammlung. Ergänzend zur Autopsie können hochaufgelöste Bilddateien das Mikroskop ersetzen. Bildbearbeitung macht schwer leserliche Beischriften sichtbar oder ermöglicht, durch digitale Spiegelung, den direkten Vergleich mit einer gestochenen Fassung. Digitale Aufnahmen von Wasserzeichen schonen eine Zeichnung vor zu häufigem Wenden. Doch bleiben Grenzen und Desiderate. Nicht jede wichtige Zeichnungssammlung ist digital erschlossen. Mitunter sind die angebotenen Bilddateien in ihrer Auflösung zu klein und damit ungeeignet als belastbarer Vergleich. Informationen zu Technik und Trägermaterial wurden nicht selten von alten Karteisystemen übernommen und liefern nicht immer zuverlässige Informationen. Wasserzeichen, Verso-Beschriftungen und Gebrauchsspuren werden in den meisten Datenbanken weder erwähnt noch abgebildet. Noch also können online-Konsultationen den „analogen“ Besuch einer Sammlung nicht ersetzen. Auch wurde bislang noch kein Algorithmus entwickelt für Zuschreibung, Beurteilung und Unterscheidung von Original und Kopie. Diese kennerschaftlichen Kernkompetenzen stehen in der Zeichnungsforschung weiterhin an zentraler Stelle. Darüber hinaus bedeutet „Kennerschaft 2.0“, das „Warum“ und „Wozu“ einer Zeichnung zu ergründen und ihr ursprüngliches Bezugsfeld zu rekonstruieren, nebst einem evaluierenden Umgang mit dem immer üppiger werdenden visuellen Material.
Kurzbiografie Annemarie Stefes
1986–1992Studium der Kunstgeschichte, Geschichte, Archäologie in Freiburg i. Br. und Wien (Magisterarbeit: „Die Himmelsstürmer des Hendrick Goltzius“)
1993–1997Promotion an der Universität Bern („Nicolaes Berchem – Die Zeichnungen“)
1998–2000Wiss. Volontärin an den Staatlichen Museen zu Berlin (Gemäldegalerie, Kunstbibliothek, Kupferstichkabinett, IT-Referat)
2000–2001Wiss. Mitarbeiterin an den Staatlichen Museen zu Berlin (Kunstbibliothek, Ornamentstichsammlung)
2001–2011Wiss. Mitarbeiterin in der Hamburger Kunsthalle, Kupferstichkabinett
seit 2011Freischaffend (Bestandskat. niederländische Zeichnungen des 17. Jahrhunderts im Rijksprentenkabinet Amsterdam; Mitarbeit an Ausstellungsprojekten in Amsterdam, Paris, Hamburg, Wien und Aachen)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Niederländische Zeichnungen des 16. bis 18. Jh.s; niederländische Druckgrafik des 16. bis 17. Jh.s
Publikationsauswahl
  • Die Himmelsstürmer. Ambitio und Paragone im niederländischen Manierismus, in: Delineavit et Sculpsit 11 (1993), S. 1–11.
  • Eleven History Drawings by Nicolaes Berchem, in: Master Drawings 4 (1997), S. 367–379.
  • Nicolaes Berchem als Zeichner, in: Pieter Biesboer (Hg.), Nicolaes Berchem. Im Licht Italiens, Ausstellungskat. Haarlem/Zürich/Schwerin 2006/07, S. 97–115.
  • Anmerkungen zu den Montfoort-Zeichnungen Nicolaes Berchems, in: Delineavit et Sculpsit 31 (2007), S. 37–42.
  • Niederländische Zeichnungen 1450–1850, 3 Bde., in: Hubertus Gaßner und Andreas Stolzenburg (Hgg.), Die Sammlungen der Hamburger Kunsthalle. Kupferstichkabinett, Bd. 3, Köln/Weimar/Wien 2011.