Sektion 1: Zur Dinglichkeit des Codex in Mittelalter und Früher Neuzeit
Donnerstag, 28. März 2019, 11:45–12:15 Uhr, ZHG, Hörsaal 104
Julia von Ditfurth, Kiel

Nachgetragen – neu gebunden – neu codiert? Zur nachträglichen Veränderung von Evangeliaren in Mittelalter und Früher Neuzeit

Mittelalterliche Codices wurden im Laufe ihrer Existenz verändert. Für die Kunstgeschichtsforschung ist die visuelle Veränderung am Objekt ablesbar, zum Beispiel durch entferntes, umgearbeitetes oder hinzugefügtes Material, wie neue Buchdeckel, Nach- und Neubindungen oder durch Nachträge in Form von Texten, Abbreviaturen oder Zeichnungen auf vormals frei gebliebenen Seiten ebenso wie zwischen den Zeilen oder am Rand. Die ergänzenden visuellen, textuellen oder materiellen Informationen eröffnen neue Sinnebenen, stellen Referenzen her oder legen ältere still. Auf diese Weise wird das Buch in einen neuen zeitlichen, geografischen, konfessionellen oder funktionalen Kontext eingebettet und mitunter umgewertet. Für den Empfänger können die Zeichen einer Veränderung, einer Neucodierung aufgrund seines Vorwissens instantan sichtbar sein, wie der barocke Samteinband einer mittelalterlichen Handschrift. Diese Zeichen können jedoch auch eine gewisse Zeitspanne zur Decodierung in Anspruch nehmen, wie die Zuordnung einer alleinstehenden Jahreszahl an einer bestimmten Stelle der Handschrift. Die Kombination mehrerer Zeichen ist möglich und resultiert nicht selten aus deren Überlagerung.
Bisher hat die Forschung die nachträgliche Veränderung liturgischer Handschriften kaum wahrgenommen, allenfalls seit kurzem diejenigen des Hoch- und Spätmittelalters. Zum Umgang mit und zur Umwertung von mittelalterlichen Handschriften in der Frühen Neuzeit gibt es nahezu keine Studien. Bisher scheint es, als würde das Evangeliar als erhabenstes Buch unter den liturgischen Büchern auch hinsichtlich der nachträglichen Veränderungen eine Sonderrolle einnehmen und besonders häufig zum Eidbuch, zur Chronik, zum Schatzverzeichnis, zum Reliquiar oder anderem umgearbeitet werden. Daher wird der Fokus im Vortrag auf diesen Buchtyp eingestellt. Es sollen exemplarisch nachträgliche Veränderungen verschiedener Prachtevangeliare vorgestellt und u. a. folgende Fragen diskutiert werden: Welche Aussagen lassen sich anhand von Nachträgen, Neubindungen oder anderen textuellen und materiellen Modifikationen über den sekundären Gebrauch des Objektes treffen? Liefern die nachträglichen Veränderungen Hinweise für eine Umwertung des jeweiligen Evangeliars im Laufe der Zeit? Und inwiefern sind die nachträglichen Veränderungen von Evangeliaren als bewusste „Neucodierung“ oder bewusstes „Reframing“ zu sehen?
Kurzbiografie Julia von Ditfurth
2005–2010 Studium der Kunstgeschichte, Evangelischen Theologie und Mittleren und Neueren Geschichte in Kiel (Magisterarbeit: „Das Rochusretabel in der Rostocker Marienkirche“)
2011–2014Promotionsstipendium des Evangelischen Studienwerks Villigst
2015Promotion an der Universität Kiel („Wandel der Strukturen. Barockisierungsprozesse in Damenstifts- und Frauenklosterkirchen in Westfalen“)
seit 2015Wiss. Mitarbeiterin am Kunsthistorischen Institut der Universität Kiel
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Wandlungsprozesse und Umwertung von Kunst in der Vormoderne; sakrale Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Skulptur des Spätmittelalters und der Renaissance; Kunst in Frauenstiften und Frauenklöstern
Publikationsauswahl
  • Wandel der Strukturen. Barockisierungsprozesse in Damenstifts- und Frauenklosterkirchen in Westfalen, Regensburg 2016.
  • Die neuzeitlichen Nachträge im Gerresheimer Evangeliar und die Ausstattungsgeschichte der Damenstiftskirche im 17. und 18. Jh., in: K. G. Beuckers und B. Johlen-Budnik (Hgg.), Das Gerresheimer Evangeliar, Köln/Weimar/Wien 2016, S. 183–206.
  • Meisterwerk der Schnitzkunst: Das Rochusretabel in der Rostocker Marienkirche, Kiel 2017.
  • Der Reliquienwagen in St. Aignan in Orléans. Ein Unikat im typologischen und motivischen Kontext, in: K. G. Beuckers und D. Kemper (Hgg.), Mittelalterliche Reliquiare und ihre Typen zwischen Innovation und Tradition, Regensburg 2017, S. 155–182.
  • Spätmittelalterliche Kaufhäuser und ihre Architektur als Medium der Repräsentation, in: H. Ochs und G. Zeilinger (Hgg.), Kaufhäuser an Mittel- und Oberrhein im Spätmittelalter (Schriften zur südwestdeutschen Landeskunde 80), Ostfildern 2018, S. 113–144.