Sektion 2: Kirchenkunst und religiöser Wandel rund um die Nordsee
Freitag, 29. März 2019, 14:00–14:30 Uhr, ZHG, Hörsaal 105
Konrad Küster, Freiburg i. Br.

Orgeln als Kultur-Indikatoren des 16. Jahrhunderts: Zum Kunstverständnis in Dorfgesellschaften an der Nordsee

In der traditionellen Kulturwahrnehmung der Frühen Neuzeit wirken die Küstenlandschaften an der Nordsee randständig. Die traditionelle Ursache dafür liegt darin, dass in diesen Regionen eigenständige Kunstproduktion eine nur untergeordnete Rolle gespielt habe. Andererseits jedoch fand internationale Kunst schon im Spätmittelalter ihren Weg bis in die Dorfkirchen dieser Gebiete.
Zum Verständnis dieser Konstellation liefert die Musikkultur erstklassige Argumente; denn auch Orgeln von Weltrang finden sich hier, und zwar seit dem 15. Jahrhundert dominant in dörflich geprägter Kultur. Da für Orgeln nicht nur eine einmalige Beschaffung geregelt werden musste (wie für Altarfiguren oder eine Kanzel), sondern auch der Unterhalt, ist der Umgang mit ihnen über Generationen hinweg in zahllosen Quellen dokumentiert. Die Orgeln wirken somit wie eine Einstiegshilfe in einen Kulturraum. Sie schlagen von der Musik aus zugleich eine Brücke zu anderen Kulturformen, zuallererst zur weiteren Innenausstattung der Kirchen, in denen sie visuell einen dominanten Part spielen, ebenso aber mit Hilfe der Werkstoffe, die bei ihrer Erbauung genutzt wurden, aber nicht direkt vor Ort verfügbar waren. Neben Blei (für Pfeifen, analog zur Eindeckung der Gebäude) spielt hier Wagenschott eine zentrale Rolle; und auch zur Etymologie des Begriffs eröffnet die Orgelkultur einen Weg: schon seit dem 15. Jahrhundert.
Zugleich lässt diese Orgelkultur gemeinsame Wurzeln im gesamten südlichen Nordseeraum erkennen: nicht nur in Deutschland und den Niederlanden, sondern auch an der Ostküste Englands. Für das Gesamtgebiet erschließen sich damit Einblicke in verbindende Ausgangsbedingungen und ebenso in regional spezifische Fortentwicklungen, an denen dann auch das südwestliche Dänemark Anteil hat. Im Verständnis internationaler Kunstpraxis handelt es sich um etwas Einmaliges – in unterschiedlichen Schattierungen, aber über die Grenzen von Staaten und Konfessionen hinweg. Traditionell ist dieses Kulturerbe durch Sturmfluten bedroht; unter dem Eindruck des Klimawandels verschärft sich dies. Es erscheint folglich notwendig, eine interdisziplinäre und supranationale Aufarbeitung in Gang zu setzen.
Kurzbiografie Konrad Küster
1980–1987Studium der Musikwissenschaft, Mittleren und Neueren Geschichte/Geschichtlichen Landeskunde in Tübingen (Magisterarbeit zum Kantatenwerk Johann Ludwig Bachs)
1987–1989Promotion in Tübingen (zu den Einleitungssätzen der Konzerte Mozarts)
1993Habilitation in Freiburg (zur venezianischen Musikkultur in der 1. Hälfte des 17. Jahrhunderts) als Stipendiat der DFG
1993–1995Lehrstuhlvertretungen in Regensburg und Freiburg
seit 1995Professor für Musikwissenschaft an der Universität Freiburg (1995–1997 Dekan, 2002–2006 Studiendekan)
2012–2015Freistellung für Forschungstätigkeiten zwischen den Niederlanden und Dänemark (mit Unterstützung v. a. des Kulturstaatsminsters im Bundeskanzleramt und der EU/Interreg IV A)
2013Überführung der Nordsee-Forschungsresultate (seit 1995) in die Wanderausstellung „Orgeln an der Nordsee: Kultur der Marschen“ (bis 2018 an 51 Ausstellungsorten in DK, NL, D)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Musikkultur der Reformation und des Luthertums (u. a. Bach, Schütz); Orgelkultur im nördlichen Mitteleuropa; italienische Musik des 15.–18. Jh.s und ihre europäische Rezeption; Musik der Wiener Klassik und deren Folgen
Publikationsauswahl
  • Die Sinfonien, in: Sven Hiemke (Hg.), Beethoven-Handbuch, Kassel und Stuttgart/Weimar 2009, S. 58–129.
  • (Hg.) Zwischen Schütz und Bach: Georg Österreich und Heinrich Bokemeyer als Notensammler (Gottorf/Wolfenbüttel), Stuttgart 2015.
  • Orgeln an der Nordsee – Kultur der Marschen: Ausstellungsführer, Kiel 2015 (auch Dänisch und Niederländisch).
  • Musik im Namen Luthers. Kulturtraditionen seit der Reformation, Kassel 2016.