Sektion 9: Objekt oder Werk? Für eine Wissensgeschichte der Kunst
Donnerstag, 28. März 2019, 11:45–12:15 Uhr, ZHG, Hörsaal 009
Heike Schlie, Salzburg

Technik und Material als Bestandteile des epistemischen Bild-Objekts

Gegenstand des Vortrages ist ein Projekt zum Klosterneuburger Goldschmiedewerk des Nikolaus von Verdun, welches 1181 zunächst eine Lesebühne in der Kirche des Augustinerchorherren-Stiftes ausstattete und 1331 im Zuge eines Reframings auf der inneren Seite eines Flügelretabels um zwei Bildachsen (und eine entsprechende Zahl von Emailplatten) ergänzt wurde. 1950 wurden die 900–1000 Plaques von den Malereien des spätmittelalterlichen Retabels getrennt auf einen modernen Träger übertragen. Aktuelle nicht-invasive chemische Untersuchungen (die aus der Flugzeugtechnik stammende Wirbelstrommessung, eventuell ergänzt um wenige minimal-invasive Probeentnahmen des Kupfers zur Kalibrierung der Ergebnisse) sowie XRF und Raman-Spektroskopie des Emails werden Gruppenbildungen erlauben, die eine Werkgenese auch innerhalb des Konvolutes des Originalbestandes nachvollziehbar machen. Ziel ist aber nicht nur eine virtuelle Rekonstruktion beider mittelalterlicher Zustände. Die materialtechnologischen Untersuchungen sind durch die Frage geleitet, ob Nikolaus von Verdun (bzw. die Werkstatt) sich auch in der spezifischen Behandlung des Materials und der Entwicklung beispielsweise der Emailtechnik von Fragen eines Bedeutungsgehalts des Bildprogramms leiten ließ, d. h. ob die Bildaufgabe eines komplexen, innovativen typologischen Programms mit den Techniken in eine Wechselwirkung eintrat. Einen deutlichen Hinweis für eine solche Ausgangsthese gibt die Widmungsinschrift, in der das in drei Registern gefasste typologische Bildprogramm mit einer Formulierung von „eingegrabenen, begrenzten Feldern“ beschrieben wird, die sich explizit auch auf die von der Werkstatt hier verwendeten Emailtechnik des champlevé beziehen lässt. So bringt das Wissen um die Technik und ihre Praxis nicht etwa nur den materiellen Träger des eigentlichen epistemischen Objektes „Bild“ hervor, sondern ist dem auch durch seine Materialität definierten epistemischen Objekt einbeschrieben – so wie es bereits von Aristoteles reflektiert und im Mittelalter nachweislich rezipiert worden ist.
Eine solche Untersuchungsanordnung modifiziert den Werkbegriff insofern, als dass ein sich veränderndes Konvolut der Goldschmiedeplaques zunächst nicht als Werk, sondern als Objektensemble beschrieben wird. In dessen Objektbiografie lassen sich unterschiedlich geclusterte „Werke“ ausmachen, in denen Material, Technik und Episteme des Objektes dynamische Größen sind.
Kurzbiografie Heike Schlie
2008–2014Wiss. Mitarbeiterin am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung, Berlin
2013Vertretung der Professur für Kunstgeschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Basel
seit 2015Senior Scientist an der Universität Salzburg, Institut für Realienkunde des Mittelalters und der Frühen Neuzeit sowie Abt. Kunstgeschichte
2016Vertretung der Professur „Bildkulturen des Mittelalters“ an der Humboldt-Universität zu Berlin
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Bildmedialität des Wissens; Malerei und Skulptur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; medialer Raum; Bildtheorie und Kunsttheorie; Bild-Materialität
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