Sektion 1: Zur Dinglichkeit des Codex in Mittelalter und Früher Neuzeit
Donnerstag, 28. März 2019, 9:30–10:00 Uhr, ZHG, Hörsaal 104
Alexandra Carmen Axtmann, Karlsruhe

Vom Gebetbuch zum „Sammelalbum“ – das kleine Pergamentschnitt-Andachtsbild

Ab dem 17. Jahrhundert wurden in Gebets- und Andachtsbüchern vermehrt kleine Bilder eingelegt, die vorwiegend in Frauenklöstern als ein besonderer Typ von Andachtsbildern produziert wurden. Die oft in Gouache gemalten zentral platzierten Heiligen, Kultobjekte oder andere biblische Szenen blieben in einem Medaillon gerahmt, während das restliche Pergament, später Papier, ringsum mithilfe von Messer oder Schere zu einem filigranen Ornamentblatt geschnitten wurde. Durch die so entstandenen zarten, oft vegetabilen Strukturen wirken diese wie feine Spitze, was in der Forschung zu dem Begriff der „Spitzenbilder“ geführt hat.
Das kleine Pergamentschnitt-Andachtsbild evoziert optisch unterschiedliche Materialien bzw. Materialitäten: zum einen die im Innern des Buches bis dahin nur gemalten oder gedruckten ornamentalen Dekore, Randleisten und Bildhintergründe – allerdings in der nun vorwiegend reinen Weißheit des Pergaments – zum anderen das oftmals auch textile oder lederne Gewand des Buches, welches oft ähnlich bearbeitet wurde, sowie die auf Hausaltären o. ä. ausgelegten textilen Decken und Tücher. Eingelegt an einer bestimmten Stelle wird dieses kleine Objekt zu einer Art Merkzettel und Lesehilfe, welches jedoch den Text oder das dortige Bild zunächst verdeckt und durch seine Spitzenstruktur nur erahnen lässt. Erst durch das Wegnehmen oder Zur-Seite-Legen im nächsten Schritt wird der Blick auf das Darunter freigegeben. Während dieses Prozesses ergeben sich je nach Anlass und Intention des Benutzers unterschiedliche Formen des Umgangs mit dem Einlegeobjekt: entweder der Gebrauch zur meditativen Versenkung, der Andacht, in das Thema des Objektes selbst, das einfache Beiseitelegen für das Lesen oder Betrachten der zuvor bedeckten Seite oder auch die bewusste Neu-Platzierung innerhalb des Buchraums. Dabei fordern die aufgrund ihrer durchbrochenen Oberfläche fragilen Objekte einen behutsamen Umgang, welcher der Praktik der meditativen Andacht, dem Umgang mit dem Buch selbst entspricht. Durch das Einlegen der kleinen Andachtsbilder, welche an verschiedenen Orten erworben, als Andenken einer Wallfahrt mitgebracht oder als Geschenke überreicht wurden, wird das Gebet- oder Andachtsbuch zu einer Art privaten „Sammel- oder Erinnerungsalbum“ seines Besitzers oder seiner Besitzerin, dessen Nutzung sich dadurch auch verändert.
Kurzbiografie Alexandra Carmen Axtmann
2000–2005Studium der Kunstgeschichte und Musikwissenschaft in Karlsruhe (Masterarbeit: „Der mittelalterliche Reliquienschrein in Architekturform. Kontext – Entstehung – Ikonographie“)
2005–2012freiberufliche Mitarbeit im Museum Frieder Burda (Baden-Baden) und Badischen Landesmuseum Karlsruhe, Außenstelle Deutsches Musikautomaten-Museum
2008–2012Bearbeitung der Retrokatalogisierung des Gesamtbestandes der Bibliothek des Instituts für Baugeschichte am Karlsruher Institut für Technologie (KIT)
2012Promotion am KIT („Studien zum Werk Harald Duwes“), gefördert durch ein Promotionsstipendium des Landes Baden-Württemberg
seit 2012Akad. Mitarbeiterin am Fachgebiet Kunstgeschichte am KIT
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Mittelalterliche Skulptur und Kunsthandwerk; Buchmalerei und Buchkunst; realistische und figurative Malerei nach 1945; Kunst und Politik im 20. Jh.; Geschichte und Methodologie der Kunstgeschichte
Publikationsauswahl
  • Säkularisierte Abendmahlsdarstellungen als Skandal an Beispielen von Harald Duwe und Matthias Koeppel, in: Kirche und Kunst. Kunstpolitik und Kunstförderung der Kirchen nach 1945 (Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 14), Göttingen 2012.
  • Studien zum Werk Harald Duwes, Münster 2013.
  • (Hg. mit Norbert Schneider) Die Wirklichkeit der Kunst. Das Realismus-Problem in der Kunstgeschichte der Nachkriegszeit (Kunst und Politik. Jahrbuch der Guernica-Gesellschaft 16), Göttingen 2014; darin: Zur Wiederentdeckung des Realismus in der Malerei nach 2008.
  • (Hg. mit Annika Stello) Sprachbilder – Bildersprache. Die Künstler Helene Marcarover und Georg Alexander Mathéy. Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung in der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe, Karlsruhe 2017.