Sektion 4: Formierung – Aktivierung. Formbezug in der Kunst der Moderne
Samstag, 26. März 2022, 15:30–16:00 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Thomas Moser, Wien

Form um 1900: Kraftreservoir und -katalysator

Um 1900 konnte man sich in Hildebrandts Problem der Form ebenso von der Allgegenwart künstlerischer Formfragen überzeugen wie in den berüchtigten Folies Bergère: Seit Winter 1892 führte Fuller ihrem verdutzten Publikum dort allabendlich ein spektakuläres Formenspiel vor Augen, das das „Formproblem“ zu einem Medienproblem der anwesenden Künstler und Intellektuellen machte. Dabei ist bislang unterbelichtet geblieben, wie eng Fullers Körperkraft mit den evozierten Formen ihrer Kleider verknüpft war (Albright). Ausgehend von Fullers kraftindexikalischem Formreigen möchte ich in meinem Beitrag zeigen, welche Schlüsselrolle Kraftempfindungen im ästhetischen Formdenken des ausgehenden 19. Jahrhunderts auf Seiten sowohl der Kunstproduktion als auch der Rezeption zugekommen ist. Meine These ist dabei, dass Form vom Betrachter grundsätzlich als Krafterfahrung wahrgenommen wurde.

Offensichtlich inspiriert durch die Lektüre von Schopenhauer und Schillers Kallias-Briefen erklärt Wölflin in seinen Prolegomena, dass die schwere Materie grundsätzlich danach streben würde, sich amorph am Boden auszubreiten – dieser Formlosigkeit sei allerdings die gestalterische „Formkraft“ entgegengerichtet. Wölfflin, Simmel und etwa Schmarsow gehen davon aus, dass dieses oppositionelle Kräftewirken durch Einfühlung vom Rezipienten auf Grundlage der eigenen Schwerkrafterfahrungen psychophysiologisch reproduziert wird (Maskarinec). Parallel zu dieser Formkraft-Reaktivierung lässt sich indes noch eine zweite Variante der kraftbasierten Formapperzeption feststellen: Ausgehend von der Annahme, dass die Objektform beim optischen Sehvorgang räumlich „abgetastet“ wird, hat sich bei Autoren wie Groos, Guyau, Henry, aber auch Sully-Prudhomme die spätestens seit Diderot und Herder stimmenreich diskutierte Assoziation von Optik und Haptik in den Vordergrund der Formwahrnehmung gedrängt. Im Unterschied zur sensualistischen Argumentation der Aufklärung werden die haptischen Formeindrücke in der mechanistischen Aisthetik jedoch nicht mehr ausschließlich als frühkindliche Verwachsung von Seh- und Tastsinn aufgefasst, sondern als die genuin physiologische Erfahrung der beim formgeleiteten Sehvorgang von der Muskulatur der Augen aufgewandten Kraft. Fullers fluktuierende Textilformen sind damit einerseits als Index und Speicher der von ihr verausgaben Kräfte zu begreifen – in Betrachterrichtung andererseits hingegen auch als gleich doppelt wirksamer Katalysator.
Kurzbiografie Thomas Moser
2009–2015Studium der Kunstgeschichte, Architektur und Philosophie in München, Wien und Paris (Masterarbeit: „Das Primat des Körpers. Eine Psychophysiologie der Schmerzerotik im Fin de Siècle“)
2015–2018Assoziierter Doktorand der Internationalen Nachwuchsforschergruppe „Vormoderne Objekte. Eine Archäologie der Erfahrung“ (Elitenetzwerk Bayern)
2016–2018Promotionsstipendiat der Gerda-Henkel-Stiftung
seit 2017Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes (ideelle Förderung bis 2018)
2018Gastwissenschaftler am Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris
2019–2020Junior Fellow an der DFG-Kolleg-Forschergruppe „Imaginarien der Kraft“ an der Universität Hamburg
seit 2020Universitätsassistent am Forschungsbereich Kunstgeschichte der Technischen Universität Wien
2021Occasional Student am Warburg Institute London
2021Promotion an der LMU München („Körper & Objekt. Kraft- und Berührungserfahrungen in Kunsthandwerk und Wissenschaft um 1900“)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Objektkultur und Bildhauerkunst in Frankreich und Deutschland um 1900; Kunst- und Wissenschaftsgeschichte; Somaesthetics und Embodiment
Publikationsauswahl
  • ‚Kunst [ist das], was bedeutende Künstler machen.‘ Zur Differenzierung zwischen Tradition und Innovation in Werner Haftmanns Schaffen der 50er und 60er Jahre, in: Helikon 3 (2014), S. 35–53.
  • Objektkultur um 1900. Der Tastsinn in Décadence und Wissenschaft, in: Ernst Seidl, Frank Steinheimer und Cornelia Weber (Hgg.): Objektkulturen der Sichtbarmachung. Instrumente und Praktiken, Berlin 2018, S. 83–90.
  • Die Natur leuchtete. Elektrische Tischlampen und Leuchter der Belle Époque, in: Peter Forster und Sabine Panchaud (Hgg.): Radikal Schön. Jugendstil und Symbolismus, Ausst.-Kat., Berlin/München 2019, S. 164–205.
  • (Hg. mit Ella Beaucamp und Romana Kaske) Objects & Organisms. Vivification, Reification, Transformation (Object Studies in Art History), Berlin/Boston 2021 [in Vorbereitung].
  • (Hg. mit Wilma Scheschonk) Strained Bodies. Physical Tension between Art and Science, Berlin/Boston 2021 [in Vorbereitung].