Sektion 4: Formierung – Aktivierung. Formbezug in der Kunst der Moderne
Samstag, 26. März 2022, 17:45–18:15 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Léa Kuhn, München

Welche Schublade? Zur (Re-)Aktivierung einer anderen Geschichte von Form und Funktion in der Moderne

Zahllose Schubladen ragen aus einem großen skulpturalen hölzernen Objekt heraus, das sich in erster Linie durch eine überdeterminierte Form auszuzeichnen scheint: Während der Umriss buchförmig anmutet, erinnert das Objekt zugleich an ein Hochhaus, die Schubladen hingegen lassen an ein großes Schrankmöbel denken. Der Titel des 2003 vom kubanischen Künstlerkollektiv Los Carpinteros gefertigten Holzobjekts ‒ „Focsa“ ‒ stärkt die architektonische Assoziation gegenüber den beiden anderen, handelt es sich doch um den Namen eines das Stadtbild von Havanna noch immer prägenden Hochhauses im Stadtteil Vedado, das zwischen 1954 und 1956 und damit vor der kubanischen Revolution erbaut worden war, und das zweifelsohne hier in einem Modell ‒ wenn auch in einer ungewöhnlichen Umsetzung ‒ nachgebaut worden ist.

Der Beitrag möchte die Arbeit von Los Carpinteros zum Anlass nehmen, um unterschiedlichen Formbegriffen der Moderne nachzuspüren, die von dem Objekt allesamt aufgerufen werden. Zunächst einmal gilt dies für den die Architektur der 1950er Jahre prägenden Funktionalismus, der hier zumindest eine gewisse Störung erfährt, ist doch jene Architektur nicht nur nicht zu gebrauchen, sondern darüber hinaus in einen ebenfalls unbenutzten weiteren Gebrauchsgegenstand, ein Schubladenmöbel, überführt worden. Die meisterlich ausgeführte Holzarbeit in Möbelform eröffnet außerdem einen Bezug auf die Design-Diskussionen der klassischen Moderne. Mit der Frage der „Anwendbarkeit“ und des Gebrauchs dieses Objektes ist, drittens, ein im kubanischen Kontext naheliegender Verweis auf marxistische Formbegriffe angelegt, die, wie die Theoretikerin Lu Märten sich ausdrückt, von einem „Nötighaben“ einer Form ihren Ausgangspunkt nehmen.

Das zwischen Skulptur, Architekturmodell und Möbel changierende Objekt aktiviert folglich gleich mehrere Formbegriffe und erweist sich damit, so die Ausgangsthese des Beitrages, als eine Auseinandersetzung mit dem Vorgang des Eingeordnetwerdens als solchem ‒ und damit als ein „epistemisches Möbel“ der besonderen Art.
Kurzbiografie Léa Kuhn
2006–2012Studium der Kunstgeschichte, Neueren Deutschen Literatur und Soziologie in München, Karlsruhe und Zürich (Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes)
2012Magisterarbeit: „John Singleton Copley und das erste ‚amerikanische‘ Bild“ (ausgezeichnet mit dem Heinrich-Wölfflin-Preis des Freundeskreises des Instituts für Kunstgeschichte der LMU München)
2014–2015Wiss. Mitarbeiterin (Vertretung) am Institut für Kunstgeschichte der LMU München
2015–2018Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes
2018Promotion an der LMU München („Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Malerei um 1800“)
2018–2019Wiss. Assistentin am Lehrstuhl für Allgemeine Kunstgeschichte an der LMU München
seit 2019Akad. Rätin a. Z. ebendort
2019/2020Forschungsaufenthalt an der University of Cambridge als Stipendiatin des DAAD; Gastwissenschaftlerin am Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris
seit 2021Vertretung des Lehrstuhls für Neuere und Neueste Kunstgeschichte, Kunst- und Medientheorie am Kunstgeschichtlichen Institut der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Europäische und nordamerikanische Malerei in der Moderne; Interdependenzen von künstlerischer Praxis und Kunstgeschichtsschreibung; Zeit und Zeitlichkeit in den Künsten um 1800; Kunsthistoriografie; Kunst und Arbeit
Publikationsauswahl
  • Das erste ‚amerikanische‘ Bild. John Singleton Copley und die Anfangsnarrative nationaler Kunst (Reihe Bilderdiskurs), Berlin/Zürich 2013.
  • (Hg. mit Hans Christian Hönes, Elizabeth J. Petcu und Susanne Thürigen) Was war Renaissance? Bilder einer Erzählform von Vasari bis Panofsky, Ausst.-Kat. Zentralinstitut für Kunstgeschichte München, Passau 2013.
  • Ikonografie/Ikonologie, in: Netzwerk Bildphilosophie (Hg.): Bild und Methode. Theoretische Hintergründe und methodische Verfahren der Bildwissenschaft, Köln 2014, S. 289–298.
  • Gemalte Kunstgeschichte. Bildgenealogien in der Malerei um 1800, Paderborn 2020 (zugl. Diss. München 2018).
  • Inventing Schools, Prefiguring an Artistic Future. Matthew Pratt’s ‘American school’ (1765) and the Making of Art History in praxi, in: Eleonora Vratskidou (Hg.): Art History for Artists. The Role of Practice in the Shaping of a Humanistic Discipline, Berlin (eingereicht).