Donnerstag, 24. März 2022, 9:20– 9:40 Uhr, K2, Hörsäle 17.01 & 17.02
Christopher S. Wood, New York

Im Reich des Chaos

Heinrich Wölfflin hat seine Darstellung der europäischen Kunstgeschichte nicht über das 18. Jahrhundert hinaus erweitert. Warum? Weil die Kunstgeschichte ab diesem Zeitpunkt – so schien es ihm – keinen Sinn mehr ergab. Die Abfolge der Stile im 19. Jahrhundert besaß keine innere Logik mehr. Wölfflin hatte immer nur eine Geschichte zu erzählen: die Bewegung von Harmonie zu Dissonanz, von guter Form zu schlechter Form, von Ordnung zu Chaos. Diese Geschichte wiederholte sich zwischen 1450 und 1750 tausendfach; der entropische Zerfall der Form reproduzierte sich im makrohistorischen Maßstab als Gesamtgestalt der Kunstgeschichte (Renaissance bis Barock); und schließlich gab es logisch keinen anderen Ausweg mehr als den Sturz ins Chaos. Der Neoklassizismus war der künstliche Versuch, den Prozess wieder in Gang zu bringen – die Ordnung wiederherzustellen.

Wölfflin erkannte richtig die Sterilität und Zweifelhaftigkeit des Neoklassizismus. Aber er konnte Friedrich Schlegel nicht folgen, der um 1800 dasselbe Dilemma diagnostizierte und nicht die Rückkehr zur Ordnung, sondern die Umarmung der Unordnung empfahl: Das Chaos und die Arabeske wurden zu den Figuren einer noch nie dagewesenen „romantischen“ Kunst, durchlässig für die Wirklichkeit, befreit von der Tyrannei der guten Form, und so endlich aufgeschlossen für die wahre Natur der Kunst, die Schlegel Poesie nannte.

Schlegel sah bereits, was Wölfflin und Ernst Gombrich sehen würden: dass jede Beschäftigung mit der künstlerischen Form eine normative Ästhetik unterstützt, die zugunsten von Ganzheit und Integration voreingenommen ist. Die bildenden Künste sind für eine solche Normativität anfälliger als die Literatur, weil der Begriff des Bildes selbst Begrenztheit und Vollständigkeit beinhaltet. In der Kunstgeschichte und Kunsttheorie ist die Form immer die gute Form. Aus diesem Grund – wenn wir mit Schlegel darin übereinstimmen, dass die Kunst eins ist, dass es nur eine Kunst gibt – können Allianzen zwischen Kunst und Form immer nur zeitweilig und provisorisch sein.

Die Kunst unserer Zeit ist nur gelegentlich an Formfragen interessiert, und vielleicht ist das der Grund, warum die Frage der künstlerischen Form, auf dieser Tagung und anderswo in den letzten Jahren, wieder auf der Tagesordnung steht.
Kurzbiografie Christopher Wood
1979–1991Studium der Literaturwissenschaft, Geschichtswissenschaft und Kunstgeschichte an der Harvard University
1992–2014Assistant, dann Associate, dann Full Professor am Department of History of Art an der Yale University
seit 2014Professor am Department of German der New York University
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Europäische Kunst, 1300–1800; Geschichte der Kunstgeschichte
Publikationsauswahl
  • Albrecht Altdorfer and the Origins of Landscape, Chicago 1993.
  • (Hg.) The Vienna School Reader: Politics and Art Historical Method in the 1930s, New York 2000.
  • Forgery, Replica, Fiction: Temporalities of German Renaissance Art, Chicago 2008.
  • (mit Alexander Nagel) Anachronic Renaissance, New York 2010.
  • A History of Art History, Princeton 2019.