Arbeitskreis Digitale Kunstgeschichte
Mittwoch, 23. März 2022, 13:15–13:35 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Nina Niedermeier, Wolfenbüttel

Visuelle Ähnlichkeit als relationaler Formbegriff: Automatische Bilderkennung von Reproduktionen frühneuzeitlicher Porträtgrafik

Als relationaler Formbegriff setzt visuelle Ähnlichkeit Kunstwerke miteinander in Beziehung. Das Abwägen von Gemeinsamkeiten und Unterschieden angesichts ähnlicher Seheindrücke ist eine fundamentale Fähigkeit menschlicher Wahrnehmung und auch eine Grundlage der künstlerischen Selektionsprozesse bei der Anfertigung druckgrafischer Reproduktionen. Im Verlauf künstlerischer Vervielfältigung wird, vor allem bei Übertragungen in andere Medien und Techniken, die Wiederholungswürdigkeit einzelner Formen bewertet, häufig gemessen daran, inwieweit diese die Wiedererkennbarkeit von Vorlagen oder neu eingebrachte Akzentuierungen stützen. Frühneuzeitliche Porträtgrafiken bezogen sich dabei zumeist auf bereits etablierte Darstellungen einer historischen Persönlichkeit, deren Porträt nicht nur als getreue Nachahmung tradiert wurde, sondern auch Veränderungen unterliegen konnte, die geknüpft waren an die sich im historischen Zeitverlauf verändernde Rezeption einer Persönlichkeit, den ästhetischen Zeitgeschmack oder Anpassungen an neue Publikationsrahmen.

Für die digitalisierte Sammlung frühneuzeitlicher Porträtgrafiken der Herzog August Bibliothek wird seit 2020 eine digitale Bildähnlichkeitssuche zur Detektion visueller Kohärenzen entwickelt. Sie soll als Hilfsmittel für das Auffinden von Reproduktionen und für die Erforschung der Beziehungen zwischen den Porträtgrafiken dienen. Neben der historischen Rekonstruktion von Reproduktionsprozessen sind Erkenntnisse über die künstlerischen Arbeitsweisen zu erwarten, die das grundlegende Verständnis der innerhalb der Gattung Porträt angelegten Interpiktorialität betreffen.

Für die digitale Bildanalyse bietet die Gattung des Porträts einen motivisch überschaubaren Rahmen, der sich vom einheitlichen Sujet der figürlichen Darstellung historischer Persönlichkeiten bis hin zu kompositorisch ähnlichen Präsentationsformen spannt. Die auf Vector Embeddings beruhende maschinelle Erschließung visueller Ähnlichkeiten folgt dabei der Multiperspektivität menschlichen Sehens, indem einerseits die ganzheitliche Erfassung einer Vielzahl visueller Elemente und andererseits die Bildsegmentierung, insbesondere die Zerteilung der dargestellten Figuren, im Vordergrund steht. Globale Ähnlichkeitsdefinitionen und Ähnlichkeitsmessungen einzelner Komponenten bilden anschließend die Basis einer digitalen Ähnlichkeitsberechnung.
Kurzbiografie Nina Niedermeier
2002–2009Studium der Mittleren und Neueren Kunstgeschichte, Philosophie, Kunstpädagogik und Ethnologie in München
2009–2014Projektmitarbeiterin in musealen Ausstellungsprojekten und Mitarbeiterin im wissenschaftlichen Lektorat (C.H.Beck Verlag)
2015–2016Stipendiatin am Deutschen Historischen Institut in Rom und am Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris
2018Promotion an der Paris-Lodron-Universität Salzburg („Die ersten Porträts der Beati und Santi moderni. Porträtähnlichkeit in nachtridentinischer Zeit“)
2018–2019Wiss. Mitarbeiterin im SFB 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
2020Herzog-Ernst-Stipendiatin am Forschungszentrum Gotha
seit 2020Wiss. Mitarbeiterin an der Herzog August Bibliothek (Projekt „PortApp“)
seit 2021Lehraufträge an den Universitäten Augsburg, Freiburg und Innsbruck
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Computer Vision und visuelle Ähnlichkeit; Porträt und Porträtähnlichkeit in der Frühen Neuzeit; interreligiöse Verflechtungen in der Kunst; jüdische materielle Kultur; Grenzverläufe des Sakralen und Profanen
Publikationsauswahl
  • Das nachtridentinische Heiligenporträt post mortem: Ignatius von Loyola und die konkurrierenden Erinnerungsbilder seiner figli spirituali, in: Christian Kaiser und Leo Maier (Hgg.): Die nackte Wahrheit und ihre Schleier (...), Münster 2019, S. 405–430.
  • Christus als Vorläufer und Medium. Das Zerreißen des Tempelvorhangs als Sinnbild heroischer Grenzüberschreitung, in: Achim Aurnhammer und Johann Anselm Steiger (Hgg.): Christus als Held und seine heroische Nachfolge (Frühe Neuzeit 235), Berlin 2020, S. 497–528.
  • Die ersten Bildnisse von Heiligen der Frühen Neuzeit. Porträtähnlichkeit in nachtridentinischer Zeit (Jesuitica 23), Regensburg 2020 (zugl. Diss. Salzburg 2018).
  • Ritratti rubati. Portraits of Post-Tridentine Saints as pia fraus, in: Chiara Franceschini (Hg.): Sacred Images and Normativity. Contested Forms in Early Modern Art, Turnhout 2020.
  • Neun Heldinnen, in: Ronald G. Asch et al. (Hgg.): Compendium heroicum, Online-Lexikon des SFB 948 „Helden – Heroisierungen – Heroismen“ der Universität Freiburg, 13.01.2021, https://doi.org/10.6094/heroicum/nhd1.1.20210113.