Sektion 3: Realismus als Formproblem
Donnerstag, 24. März 2022, 14:45–15:15 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Eva Ehninger, Berlin

Deadpan. Form ohne Ausdruck und Ästhetik der Neutralität

In seinem Buch „Image of the People. Gustave Courbet and the 1848 Revolution“ (1973) beschreibt der neo-marxistische Kunsthistoriker T. J. Clark die von zeitgenössischen Kritikern als frustrierend wahrgenommene interpretatorische Offenheit des Gemäldes „Un enterrement à Ornans“ (1849–50), das ein Begräbnis in der Provinz zum Thema hat. Malte Courbet ein religiöses oder ein soziales Ereignis? Setzte er es als eine komische oder tragische Begebenheit in Szene, als eine sentimentale oder groteske Veranstaltung? Sollte das Gemälde eine schlichte Dokumentation ländlichen Lebens sein, oder eine Allegorie, oder gar ein Appell? Clark zufolge liegt die Unmöglichkeit der Bedeutungsfestschreibung in Courbets Malerei selbst begründet, jener präzisen, steifen Ausdrucklosigkeit von applizierter Farbe und hergestellter Form, die der Autor mit dem Begriff „deadpan“ zusammenfasst. Damit impliziert Clark, dass Courbets malerischer Realismus emotionale Neutralität bewusst zur Schau stellt, um die Vorstellung von Neutralität ad absurdum zu führen.

Ein Jahr, bevor Clark sein Buch zu Courbet publizierte, fand dieser Begriff Anwendung, um die fotografische Arbeit des US-amerikanischen Konzeptkünstlers Ed Ruscha zu beschreiben. Die Architekten Robert Venturi und Denise Scott-Brown, deren Arbeit durch Henri Lefebvres marxistisch geprägte Raumtheorie informiert war, bezogen sich in ihrer Studie „Learning From Las Vegas“ (1972) direkt auf Ruscha, dessen Künstlerbuch „Every Building on the Sunset Strip“ (1966) ihnen als methodisches Vorbild für ihre eigene Dokumentation des städtischen Raumes diente. Es war insbesondere die „deadpan“-Ästhetik von Ruschas automatisiert hergestellten Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Fassadenfolgen von Los Angeles, die das Architektengespann für seine eigenen Zwecke in Anspruch nehmen wollte. Mit ihrer Hilfe konnte, so die Hoffnung, eine Dokumentation der realen Lebensbedingungen im Stadtraum gelingen. Diese „objektive“ Bestandsaufnahme bildete die Grundlage für die Analyse und Verbesserung urbaner Strukturen. Dabei spielte den Architekten der Umstand in die Hände, dass eine „neutrale Ästhetik“ eben nicht notwendig neutral ist.

Die Verwendung des Begriffs „deadpan“ für die Beschreibung der formalen Qualitäten von Courbets Malerei ebenso wie für Ruschas konzeptuelle Fotografie gibt Anlass, über eine Ästhetik der Neutralität nachzudenken, in der die Verbindung von Gegenständlichkeit und Abstraktion zu einer ausdruckslosen, aber bedeutungsvollen Form führt.
Kurzbiografie Eva Ehninger
2000–2006Studium der Kunstgeschichte, Museum Studies, Anglistik und Amerikanistik in Heidelberg, Frankfurt/Main und Michigan
2011Promotion („Vom Farbfeld zur Land Art. Ortsgebundenheit in der amerikanischen Kunst, 1950–70“)
2011–2015Wiss. Mitarbeiterin in der Abteilung Kunstgeschichte der Moderne und Gegenwart der Universität Bern
2015–2017Laurenz-Assistenzprofessorin für Zeitgenössische Kunst an der Universität Basel
seit 2017Professorin für Kunstgeschichte der Moderne an der Humboldt-Universität zu Berlin
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Geschichte und Theorie der Fotografie; Theorie und Kritik des Modernismus; Kolonialismus und postkoloniale Theorien; Mediengeschichte der Repräsentation
Publikationsauswahl
  • Vom Farbfeld zur Land Art. Ortsgebundenheit in der amerikanischen Kunst, 1950–70, München 2013.
  • (Hg. mit Antje Krause-Wahl) In Terms of Painting, Berlin 2016.
  • (Hg. mit Magdalena Nieslony) Ökonomien des Sozialen, Themenschwerpunkt Zeitschrift für Kunstgeschichte 81 (2018).
  • „Die Industrie der Fotografie. Arbeit als Bildproblem“, in: kritische berichte 46/4 (2018), S. 32–41.
  • Bruce Nauman. A Contemporary, Basel 2018.