Sektion 1: Re-form. Form und Formwandel in der mittelalterlichen Kunst
Freitag, 25. März 2022, 10:00–10:30 Uhr, K2, Hörsaal 17.02
Lena Marschall, Hamburg

Der Predigerorden – ein glücklicher Weinstock? Stammbäume als Werkzeug der Traditionsbildung im Kontext der dominikanischen Ordensreform

Die Visualisierung von Tradition gehört zu den wichtigsten Zielen der Selbstdarstellung geistlicher Orden. Nur scheinbar paradox spielt das vor allem in den Reformbewegungen eine große Rolle. Im ausgehenden Quattrocento ist dabei ein markanter Formwandel zu konstatieren: Während zuvor die Gelehrtenreihe als Bildmotiv dominiert, florieren nun aus dem Körper des Gründungsvaters sprießende Stammbäume. Parallel zur Genealogie Christi aus der Wurzel Jesse zeigen sie die Einschreibung der Gemeinschaft in den christlichen Heilsplan. Der Großteil der überlieferten Werke ist dominikanischen Ursprungs, ähnliche Bildkonzepte sind aber auch bei den Minoriten zu beobachten.

Der Beitrag untersucht dieses Phänomen und diskutiert die Ursprünge der Ikonografie im Kontext der Observanz. Denn bereits der Prototyp des später kanonischen Motivs steht im Zusammenhang mit den Reformbestrebungen innerhalb des Predigerordens: Als Teil eines um 1455 geschaffenen Freskenzyklus in Santa Maria sopra Minerva (Rom) zeigte er den Orden entsprechend der „Meditationes“ des Juan de Torquemada als fruchtbaren Weinstock. Das Bildprogramm, das wohl von Fra Angelico konzipiert und in Terraverde-Malerei ausgeführt wurde, ist als reformpolitisches Programm zu verstehen. Im Baumschema greift Torquemada ein klassisches mnemotechnisches Instrument auf, dessen affektives Potenzial etwa durch Bonaventuras „Lignum Vitae“ bestens erprobt war und das überdies von dezidiert mendikantischer Bedeutung war. Die über Bonaventuras Traktat hinausgehenden alberi francescani des Trecento dürften ihm neben dem Wurzel-Jesse-Schema als Vorlage für seinen Ordensbaum gedient haben. Zudem scheint ein Florentiner Lebensbaum im Chiostro Verde von Santa Maria Novella als frühe dominikanische Adaption des franziskanischen Bildformulars zentral für die Motivgenese zu sein. Über Handschriften und Drucke erfuhren die „Meditationes“ und das Bildprogramm der heute verlorenen Wandmalereien insbesondere nördlich der Alpen bald weite Verbreitung.
Kurzbiografie Lena Marschall
2009–2014Studium der Europäischen Kunstgeschichte, Philosophie und Politischen Ökonomik in Heidelberg und Paris (Bachelorarbeit: „Die Darstellung der Hl. Elisabeth auf dem Altenberger Altar. Eine ikonographische Analyse“)
2014–2016Studium der Europäischen Kunstgeschichte und Philosophie in Heidelberg (Masterarbeit: „Das Bamberger Heiltumsbuch (London, British Library, Add. Ms. 15689). Die Handschrift im Kontext der Bamberger Druckausgaben“)
seit 2017Wiss. Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg
seit 2018Promotionsvorhaben an der Universität Hamburg („Ordensbäume und Gelehrtenreihen: Genealogische Bildkonzepte im Dienst der Selbstdarstellung geistlicher Orden“)
seit 2020Promotionsstipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Kunst des Mittelalters und der Frühen Neuzeit; Wechselwirkung von Buchmalerei und Druckgrafik in der Frühzeit des Buchdrucks; Architektur und Ausstattung mittelalterlicher Sakralräume; Ikonografie und liturgischer Gebrauch von Altarbildern; visuelle Strategien der Selbstdarstellung geistlicher Orden
Publikationsauswahl
  • Tanz und Traum. Das Epitaph für Heinrich Retzlow in der Berliner Marienkirche, in: Arsprototo 1/2017, S. 62f.
  • Albrecht Dürer: Der Tierpark zu Brüssel, in: Jochen Sander (Hg.): Dürer. Kunst – Künstler – Kontext, Ausst.-Kat. Städelmuseum Frankfurt a. M., München 2013, S. 350f.
  • Mehrere Einträge in: Ulrich Blanché (Hg.): Art the Ape of Nature. Das Affenmotiv in der Zeitgenössischen Kunst, Ausst.-Kat. Universitätsmuseum, Heidelberg 2013.
  • (Hg. mit Peter Schmidt) Das Bamberger Heiltumsbuch (London, British Library, Add. ms. 15689). Studien und Kommentar zum Faksimile (in Vorbereitung).