Sektion 10: Bilder und Architekturen als transkulturelle Aushandlungsräume
Marco Silvestri, Paderborn

Der qato in Potosí – Raum und Bild eines hybriden Platzes

Im ertragreichsten Silbererzrevier der Frühen Neuzeit entstand 1545 Potosí im Andenhochland. Angezogen vom Reichtum und durch die Wiedereinführung eines Frondienstes, der mita, lebten hier im 17. Jahrhundert bis zu 160.000 Menschen. Der Schmelztiegel brachte eine hybride Kultur hervor, von der die barocken Kirchenfassaden das bekannteste Zeugnis darstellen. Die vielschichtige Zusammensetzung der Bewohnerschaft äußerte sich insbesondere im Raum des größten innerstädtischen Marktplatzes, des qato.

Noch vor der Ankunft der Europäer existierte bereits eine indigene Siedlung. Mit dem Silberboom erwuchs zunächst eine ungeplante Bergbaustadt mit einem riesigen Warenumschlagplatz im Zentrum, der den Raumvorstellungen der indigenen Bevölkerung entsprach. Sie verfügte zu diesem Zeitpunkt über die technische Überlegenheit im Montanwesen und konnte hier ihre Erzanteile günstig veräußern sowie die Konsumnachfrage der Bergleute befriedigen. Diesen Spielraum suchten die aufstrebenden europäischen Minenbesitzer zu unterlaufen, indem sie das tradierte rasterförmige Städtemodell der spanischen Siedlungspolitik etablierten. Gleichzeitig sollten die Indigenen aus der Montanwirtschaft und dem Warenhandel gedrängt werden. Die Vereinnahmung gelang aber im (Kultur-)Raum des qato nicht vollumfänglich. Die besondere Zusammensetzung Potosís ermöglichte es der indigenen Bevölkerung weiterhin Handel zu treiben, an der architektonischen Platzraumgestaltung zu partizipieren und performativ-religiöse Zeremonien am Platz zu beeinflussen und so die plurale Bedeutungsüberlagerung des sich ständig verändernden Raumes zu erhalten. Der Niedergang der Silberminen brachte das fragile Gesellschaftssystem Potosís im 18. Jahrhundert ins Wanken. Um ökonomische Reformen durchsetzen zu können, betrieben die Spanier den Bau einer Münze auf dem qato, was dessen Auslöschung besiegelte.

Auf der Grundlage von Stadtansichten und -plänen sowie Schriftquellen soll erörtert werden, wie hier europäische und indigene Stadtbaukonzepte und Ordnungsvorstellungen sowie soziokulturelle Raumvorstellungen verschmolzen und welche Rolle unterschiedliche performative Akte bei der Konstitution des Raumes spielten. Dies führt zur Frage, welche Bedeutung er im Spannungsfeld zwischen indigenen Selbstbehauptungsstrategien und spanischen Hegemonialansprüchen als „Dritter Raum“ hatte und wie sich seine Gestalt, Nutzung und Ausdehnung in diesen Aushandlungsprozessen und Hybridisierungsvorgängen beständig veränderte.

Kurzbiografie Marco Silvestri
2004–2011Studium der Kunstgeschichte und Philosophie in Stuttgart (Magisterarbeit: „Die Schloßkirche zu Altenburg. Herrschaftssakralraum und Repräsentationsbau der Wettiner im späten Mittelalter“)
2011–2013Freier Kunstvermittler, Kunstmuseum Stuttgart und Städtische Galerie Villa Merkel in Esslingen
2012–2013Galerieassistenz, Galerie Schlichtenmaier, Stuttgart
seit 2013Wiss. Mitarbeit am Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe der Universität Paderborn
2014–2016Projektkoordinator im BMBF-Projekt „Wesersandstein als globales Kulturgut (WeSa) – Innovation in der Bauwirtschaft und deren weltweite Verbreitung in vorindustrieller Zeit (16.–19. Jahrhundert)" an der Universität Paderborn
2016–2018Forschungsaufenthalte und Archivrecherchen in Sevilla, Archivo General de Indias, Archivo General de la Nación, Lima (Peru), Archivo y Biblioteca Nacionales de Bolivia, Sucre (Bolivien), Archivo Histórico – Casa Nacional de Moneda, Potosí (Bolivien)
2018–2019Promotionsstipendium der Gerda Henkel Stiftung
2020Promotion an der Universität Paderborn („Chaos und Ordnung. Architektur und Städtebau in den Silberbergbauregionen Mitteldeutschlands und des Vizekönigreichs Peru im 16. Jahrhundert“)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Architekturgeschichte; Geschichte des Städtebaus; Geschichte der Denkmalpflege; Bauhüttenwesen; Kunst im öffentlichen Raum
Publikationsauswahl
  • Die Ordnung der Stadt – Eine vergleichende Untersuchung zur Residenzarchitektur Bückeburgs in der Frühen Neuzeit, in: Stefan Brüdermann (Hg.): 1615 – Recht und Ordnung in Schaumburg (Schaumburger Studien 74), Bielefeld 2018, S. 317–347.
  • (mit Eva-Maria Seng) Die Wiedereinrichtung der Dombauhütten in Europa im 19. und 20. Jahrhundert, in: Isabel Chave, Etienne Faisant et al. (Hgg.): Le chantier cathédral en Europe. Diffusion et sauvegarde des savoirs, savoir-faire et matériaux du Moyen Âge à nos jours, Paris 2020, S. 57–69.
  • (Hg. mit Maria Harnack und Paul Duschner) Im-materiell. Kulturerbe-Studien für Eva-Maria Seng zum 60. Geburtstag, Berlin/Boston 2022; darin: Restauratio und memoria. Strategien des Wiederaufbaus in Annaberg nach dem großen Stadtbrand von 1604, S. 228–252.
  • Cities Made of Silver. On the Impact of Migration Processes and Architectural Theory on the Urban Planning of Mining Towns of the Early Modern Period, in: 35th CIHA World Congress. Motion: Migrations. Proceedings, São Paulo 2023 (im Druck).
  • Travelling Stonemasons and the Architectural Cultural Exchange between Spain, México, and Peru in the Sixteenth Century: Connections and Paths of the Toribio de Alcaraz Family, in: Costanza Beltrami, Sylvia Alvares Correa et al. (Hgg.): Art and Artists between Iberian and Global Geographies, London 2023 (im Druck).