Sektion 10: Steht die Form schon vorher fest?
Samstag, 26. März 2022, 17:00–17:30 Uhr, HP, Hörsaal 2.01
Anne Scheinhardt, Paderborn

Die alternative Form(-Frage) – zur Revision römischer Industriedenkmale

Der Nutzungsanpassung historischer Fabrikanlagen wurde in den letzten Jahrzehnten vermehrt Aufmerksamkeit zuteil. In Hinblick auf die mehr als 50jährige Tradition der Industriedenkmalpflege in Italien, die eng mit der britischen Industriearchäologie verbunden ist, fällt vielerorts das Ausbleiben theoretischer Reflexionen zur Formfindung im Bestand auf; so auch im Fall der römischen Peroni-Brauerei aus dem frühen 20. Jahrhundert. Dieses Ensemble wurde nach der Stilllegung 1970 bis 2010 vielfach restauriert, erneuert und erweitert. Anhand des mehrstufigen Prozesses lassen sich die Verschiebungen im Umgang mit industriellen Hinterlassenschaften eindrücklich nachvollziehen: von der Anerkennung als Kulturerbe über das Ringen mit Eingriffen bis hin zu deren Aktualisierung und Revision.

Wenngleich das (um-)gebaute Ergebnis zwischen Bewahrung und Fortschreibung der Substanz, an welcher der herausragende Denkmalwert bis heute ablesbar ist, die Vermutung nahelegt, dass die Rolle beteiligter Denkmalpfleger und Denkmalpflegerinnen klar war, erweist sich die Suche nach alternativen Formen als weitaus komplexer. Ausgangspunkt der Relektüre angewandter Maßnahmen – sowohl Rekonstruktion und Austausch einzelner Bauteile als auch interpretierende Um- und Neubauten – ist deren Analyse unter Einbeziehung theoretischer Schriften und archivarischer Funde. Im Wechselblick auf die polyedrischen Hauptakteure Gustavo Giovannoni (1873–1947), der ab 1898 die singuläre Formensprache der Brauerei prägte, und Alberto M. Racheli (1948–2009), der jene materiell wie historiografisch festigte, soll erstmals für diese Ikone römischer Industriearchitektur die Frage gestellt werden: Stand die Form schon vorher fest?

Durch Bau- und Quellanalyse können aus professionsgeschichtlicher Perspektive zunächst die Gestaltungsabsichten beider Architekten, Städtebauer und Denkmalpfleger, die zwischen unterschiedlichen Anforderungen vermittelten, auf den Prüfstand gestellt werden. Die mit Deutschland vergleichbaren Rahmenbedingungen, wie die Anpassung des Denkmalrechts in Folge der Charta von Venedig (1964), konstituieren dabei nur einen Faktor. Ferner soll die Bedeutung lokaler Entwurfs- und Aushandlungsprozesse, etwa in Bezug auf denkmalpraktische Konventionen und Auftragsvorgaben, aufgezeigt werden. Nicht zuletzt stellen sich angesichts hypothetischer Überformungen in teils unveröffentlichten Bauplänen neue Form-Fragen zur Trag- und Reichweite schöpferischer Ergänzung in der Denkmalpflege.
Kurzbiografie Anne Scheinhardt
2007–2010Studium der Kunst- und Bildgeschichte und Betriebswirtschaftslehre in Berlin (Bachelorarbeit: „‚Eine andere Stadt für ein anderes Leben‘. Eine historische Einordnung und Analyse des Umgangs von Constants New Babylon Projekt ...“)
2009–2013Stud. Hilfskraft im Institut für Kunst- und Bildgeschichte (Mediathek) der Humboldt-Universität zu Berlin
2010–2014Studium der Kunst- und Bildgeschichte in Berlin (Masterarbeit: „‚Roma contemporanea‘ und ihre Kunstfabriken MAXXI und MACRO. Zur Transformation von Industrieruinen in Kunst- und Stadträume“)
2013–2015Mitarbeiterin mit wissenschaftlichen Aufgaben und freiberufliche Projektmitarbeiterin an der Bibliotheca Hertziana, Rom (Fotothek)
seit 2015Promotionsstudium im Fach Kunst- und Bildgeschichte in Berlin (Arbeitstitel: „Zur Transformation historischer Industriebauten in der aktuellen Stadtplanung Roms. Aufgabe, Kulturerbe, Erinnerungsort, urbanistische Ressource?“)
2015–2018Doktorandin für wiss. Aufgaben an der Bibliotheca Hertziana, Rom
2017Wiss. Institutsassistentin (in Vertretung) an der Bibliotheca Hertziana, Rom
2019Doktorandenstipendiatin am Deutschen Historischen Institut in Rom
seit 2019Selbstständige Tätigkeit als Kunst- und Kulturführerin in Italien/Deutschland (u. a. für Senza Titolo S.r.l., Bologna)
seit 2020Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Materielles und Immaterielles Kulturerbe der Universität Paderborn
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Industrieerbe, -architektur und -denkmalpflege; Gegenwartsarchitektur und Stadtplanung, insbesondere in Rom; Geschichte der Architektur und des Städtebaus des 20. und 21. Jh.s.; analoge und digitale Medien, darunter historische Fototechniken; Idealstädte und Stadtutopien, speziell der 1960er und 1970er Jahre
Publikationsauswahl
  • Sehnsuchtslos und postkanonisch? Architektenreisen nach Italien im 20. Jahrhundert, Tagungsbericht zum Studientag an der Bibliotheca Hertziana, Rom, 2015, als Gastbeitrag in blog.arthistoricum.net, 25.04.2016.
  • Die Museen Centrale Montemartini und MACRO. Römische Altindustrie zwischen denkmalgerechter Umnutzung und urbaner Revitalisierung, in: kunsttexte.de – E-Journal für Kunst- und Bildgeschichte, Sektion: Architektur Stadt Raum, 1/2017, https://doi.org/10.18452/6840.
  • „… a maggior decoro ed utilità pubblica.“ Römische Stadträume im Wandel der Industriekultur, in: Sönke Friedreich (Hg.): Die industrielle Stadt. Lokale Repräsentationen von Industriekultur im urbanen Raum seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert (Volkskunde in Sachsen 30), Kromsdorf 2018, S. 131–161.
  • Music, Performance, Architecture. Sacred Spaces as Sound Spaces in the Early Modern Period, in: Quellen und Forschungen aus italienischen Archiven und Bibliotheken 100 (2020), S. 541–549, https://doi.org/10.1515/qufiab-2020-0026.
  • Konservierung – Fortschreibung – Revision. Römische Industrieensembles im Spiegel der Zeit ab 1871, in: Paul Zalewski und Krzysztof Stefański (Hgg.): Die postindustrielle Stadt und ihr kulturelles Erbe im 21. Jahrhundert. Schutz – Erhaltung – Revitalisierung, S. 285–297 (im Erscheinen).