Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), Stuttgart/Berlin
In einer kürzlich in der deutschen Tagespresse veröffentlichten Rezension wurde die Kunstgeschichte als „die international führende Geisteswissenschaft“ apostrophiert. Gründe für diese eklatante Überschätzung blieb der Rezensent schuldig, doch lassen sie sich unschwer erraten. Von ihrer Erörterung ausgehend zeigt sich ein Aufgabenprofil des Faches, das über seine wissenschaftliche Funktion in Forschung, Lehre und Vermittlung hinausweist und praktische Bereiche des Marktes und der Medien einschließt. Eine derart tiefergelegte Kunstgeschichte berührt sich erneut mit älteren Wissensformen wie der Kennerschaft und Begriffen wie dem Geschmack, die sie früh hinter sich zu lassen bestrebt war und als obsolet zu den Akten gelegt hat.
Der Szientismus der Kunstgeschichte und ihre Anlehnung an die philosophische Ästhetik waren nicht der einzig mögliche Weg des Faches. Einem der wichtigsten Pioniere des jungen Faches, dem Berliner Museumsdirektor Gustav Friedrich Waagen, konnte diese Tatsache nicht entgehen. Sein europaweites Beobachtungsfeld hatte einen natürlichen Schwerpunkt in England. Hier sah er nicht nur die „Great Exhibition“ von 1851, aus der ein großes, der Produktästhetik und der Erziehung des Geschmacks gewidmetes Museum hervorging, sondern auch die Anfänge der englischen Designreform (Ruskin, Morris). Auf sie sollte auch die deutsche Reformbewegung Bezug nehmen, die den Begriff der „guten Form“ ins Zentrum ihrer Bemühungen stellte.
An die erste temporäre Ausstellung in Marlborough House, die 1852 eröffnet wurde und unter dem Titel „Examples of False Principles in Decoration“ Beispiele schlechten Geschmacks versammelte, knüpfte wiederum ein Stuttgarter Museumsdirektor und Mitglied des Werkbundes, Gustav Edmund Pazaurek, mit einer Ausstellung von 1909 an, deren Vergegenwärtigung auf dem Programmzettel dieses 36. Deutschen Kunsthistorikertages steht. Doch der schlechte Geschmack hat neun Leben, wie sich mit zunehmender Deutlichkeit zeigt, seit sich die sozialen Medien seiner Erziehung angenommen haben.