Mittwoch, 23. März 2022, 18:30–19:30 Uhr, Neues Schloss Stuttgart, Weißer Saal

Festvortrag

Aus dem Leben eines Schwererziehbaren.
Die Kunstgeschichte, die gute Form und der schlechte Geschmack

Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich Raulff
Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa), Stuttgart/Berlin

In einer kürzlich in der deutschen Tagespresse veröffentlichten Rezension wurde die Kunstgeschichte als „die international führende Geisteswissen­schaft“ apostrophiert. Gründe für diese eklatante Überschätzung blieb der Rezensent schuldig, doch lassen sie sich unschwer erraten. Von ihrer Erörterung ausgehend zeigt sich ein Aufgabenprofil des Faches, das über seine wissen­schaftliche Funktion in Forschung, Lehre und Vermittlung hinausweist und praktische Bereiche des Marktes und der Medien einschließt. Eine derart tiefergelegte Kunst­geschichte berührt sich erneut mit älteren Wissens­formen wie der Kennerschaft und Begriffen wie dem Geschmack, die sie früh hinter sich zu lassen bestrebt war und als obsolet zu den Akten gelegt hat.

Der Szientismus der Kunstgeschichte und ihre Anlehnung an die philosophische Ästhetik waren nicht der einzig mögliche Weg des Faches. Einem der wichtigsten Pioniere des jungen Faches, dem Berliner Museums­direktor Gustav Friedrich Waagen, konnte diese Tatsache nicht entgehen. Sein europaweites Beobach­tungs­feld hatte einen natürlichen Schwer­punkt in England. Hier sah er nicht nur die „Great Exhibition“ von 1851, aus der ein großes, der Produkt­ästhetik und der Erziehung des Geschmacks gewidmetes Museum hervorging, sondern auch die Anfänge der englischen Designreform (Ruskin, Morris). Auf sie sollte auch die deutsche Reformbewegung Bezug nehmen, die den Begriff der „guten Form“ ins Zentrum ihrer Bemühungen stellte.

An die erste temporäre Ausstellung in Marlborough House, die 1852 eröffnet wurde und unter dem Titel „Examples of False Principles in Decoration“ Beispiele schlechten Geschmacks versammelte, knüpfte wiederum ein Stuttgarter Museums­direktor und Mitglied des Werkbundes, Gustav Edmund Pazaurek, mit einer Ausstellung von 1909 an, deren Vergegen­wärtigung auf dem Programm­zettel dieses 36. Deutschen Kunsthistoriker­tages steht. Doch der schlechte Geschmack hat neun Leben, wie sich mit zunehmender Deutlichkeit zeigt, seit sich die sozialen Medien seiner Erziehung angenommen haben.

Kurzbiografie Ulrich Raulff
1971–1977Studium der Philosophie und Geschichte in Marburg und Paris (1977 Promotion an der Philipps-Universität Marburg)
1978–1993Freiberufliche Tätigkeit als Übersetzer, Lektor und Essayist
Forschungsstipendien der VolkswagenStiftung und der Thyssen-Stiftung
1995 Habilitation im Fach Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin
1994–2004Redakteur und Feuilletonchef der FAZ; seit 2001 Leitender Redakteur der SZ
2004–2018Direktor des Deutschen Literaturarchivs Marbach
seit 2018Präsident des Instituts für Auslandsbeziehungen (ifa)
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Europäische Ideengeschichte vom 18. bis 21. Jh.
Publikationsauswahl
  • Ein Historiker im 20. Jahrhundert. Marc Bloch, Frankfurt am Main 1995.
  • Wilde Energien. Vier Versuche zu Aby Warburg, Göttingen 2003.
  • Kreis ohne Meister. Stefan Georges Nachleben, München 2009.
  • Wiedersehen mit den Siebzigern. Die wilden Jahre des Lesens, Stuttgart 2014.
  • Das letzte Jahrhundert der Pferde. Geschichte einer Trennung, München 2015.