Sektion 9: Exzentrische Abstraktion, Anti-Form, Post-Minimalismus, informe und ihre Relektüren
Freitag, 25. März 2022, 10:00–10:30 Uhr, K2, Hörsäle 17.17 & 17.12
Christian Berger, Mainz

Form, Formlosigkeit, Zeitlichkeit: Nomura Hitoshis Arbeit mit sublimierenden Substanzen

Die Arbeit mit materiell nicht greifbaren, sich verflüchtigenden Substanzen markierte in den 1960er Jahren eine radikale Position innerhalb der Diskurse um Prozesshaftigkeit, Formlosigkeit und „Dematerialisierung“. Der Beitrag betrachtet die Praxis des japanischen Künstlers Nomura Hitoshi im Hinblick auf die Problematik des Formlosen. Für eine Ausstellung in Kyoto im Frühjahr 1969 errichtete Nomura eine rund acht Meter hohe Außenskulptur aus aufeinander gestapelten Pappkartons, die im Verlauf der Ausstellung aufgrund von Schwerkraft und Witterungsbedingungen kollabierten und anschließend entsorgt wurden. In den Kategorien anglo-amerikanischer Kunstgeschichtsschreibung erscheint Nomuras Arbeit als radikale Ausprägung der Tendenzen von Process Art und Antiform, doch stehen solche schnellen Einordnungen, selbst wo sie nicht hierarchisierend gemeint sind, einem adäquaten Verständnis seiner Praxis im Wege. Wie bereits der Titel der Arbeit, „Tardiology“ – ein vom Künstler selbst geprägter Neologismus – andeutet, fokussierte Nomura in seiner Praxis insbesondere das Konzept der Zeitlichkeit. Umso stärker kommt dies bei zwei anschließenden Serien zum Tragen, „Dryice“ und „Iodine“, bei denen er mit Substanzen arbeitete, die unter normalen Umweltbedingungen sublimieren, das heißt direkt vom festen in den gasförmigen Zustand übergehen. Nomura platzierte Blöcke aus Trockeneis und rechteckige Felder aus Iodkristallen auf verschiedenen Unterlagen, versetzte sie in regelmäßigen Zeitabständen und hielt die Zwischenstufen fotografisch fest.
Im Kontext der Sektion möchte ich diese ungewöhnlichen Arbeiten gerne in ihrem Oszillieren zwischen Form und Formlosigkeit betrachten – vollzieht sich hier doch ein stetes Hin und Her zwischen einem sich verflüchtigenden Material und dessen geometrisch regelmäßiger Anordnung, die auch über den Sublimationsprozess hinaus Spuren hinterlässt und den Arrangements eine hohe bildliche Qualität verleiht. Radikale Prozesshaftigkeit und die Verabschiedung eines an Dauerhaftigkeit gebundenen Skulpturbegriffs verbinden sich mit einer gewissen Regelmäßigkeit der Form, was vereindeutlichende Lesarten erheblich erschwert. Dies möchte ich im Kontext ähnlicher Wechselverhältnisse, etwa von Materialität vs. Objekthaftigkeit sowie ungreifbarem Material und „Container“ diskutieren.
Kurzbiografie Christian Berger
2007Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Publizistik/Kommunikationswissenschaft in Gießen, Bristol und Berlin (Magister Artium in Berlin)
2007–2009Wiss. Mitarbeiter am Kunstgeschichtlichen Institut der Philipps-Universität Marburg
2009–2010Stipendiat am Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris
seit 2010Wiss. Mitarbeiter am Institut für Kunstgeschichte und Musikwissenschaft der Johannes-Gutenberg-Universität Mainz
2013Promotion an der Freien Universität Berlin („Wiederholung und Experiment bei Edgar Degas“)
2015–2016Fellow der VolkswagenStiftung am Getty Research Institute in Los Angeles
2017–2019Marie-Skłodowska-Curie-Fellow der Europäischen Union am Courtauld Institute of Art in London
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Moderne und zeitgenössische Kunst; Materialität und Produktionsästhetik; transkulturelle Verflechtungen der Kunst seit den 1960er Jahren; 19. Jh. (Frankreich/England); nordamerikanische Kunst nach 1945
Publikationsauswahl
  • Wiederholung und Experiment bei Edgar Degas, Berlin 2014.
  • (Hg. mit Jessica Santone) Documentation as Art Practice in the 1960s (Visual Resources 32, Nr. 3/4, 2016).
  • (Hg.) Conceptualism and Materiality: Matters of Art and Politics (Studies in Art & Materiality 2), Leiden/Boston 2019.
  • (Hg. mit Annika Schlitte) Sublimation: Redefining Materiality in Art after Modernism / Neubestimmungen von Materialität in der Kunst nach dem Modernismus, Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Sonderheft 19 (2021).