Sektion 1: Höhlen, Grotten und immersive Räume. Ansätze zu einer transkulturellen Bild-Raum-Wissenschaft
Alexander Streitberger, Löwen

Grottenfieber. Thomas Demands „processo grottesco“ als Archiv zwischen Leidenschaft und Verstand

Im Jahr 2006 verarbeitete Thomas Demand über dreißig Tonnen Kartonage, um eine auf einer Postkarte reproduzierte Grotte in Mallorca im naturgetreuen Maßstab nachzubauen und anschließend abzufotografieren. Anders als bei seinen bisherigen Arbeiten zerstörte Demand allerdings dieses Mal das Papiermodell nicht, nachdem er es fotografisch abgebildet hatte. Im Rahmen des Projekts „processo grottesco“ integrierte er die Pappgrotte in eine umfassende Installation, die außerdem auch sämtliche Bild- und Textdokumente beinhaltet, die der Künstler im Vorfeld der Entstehung der Arbeit gesammelt hatte, um die kulturellen, sozialen und ästhetischen Dimensionen der Grotte durch die Jahrhunderte hindurch zu erforschen. Von der griechischen Antike bis zu Batman, von Wagners Rheingold bis zu trivialen Postkarten von Eishöhlen, Gralsburgen und der Grotta Azzurra, von romantischem Höhlenkult bis zu den Tropfsteinmetamorphosen des Surrealisten Max Ernst umspannt das Spektrum die unterschiedlichsten Vorstellungen und Bilder, die sich im Laufe der Jahrhunderte sprichwörtlich in der abendländischen Kultur abgelagert haben. Der Sedimentierung des gesteinsbildenden Materials entspricht die kulturelle Sedimentierung, die im Zuge eines grotesken Prozesses (processo grottesco) ein umfassendes Archiv bildet. Im Gegensatz zu den vorwiegend medientheoretischen Ansätzen zu Demands Werk, sollen nicht Konzepte von Simulation, Medienkritik und Medientransfer im Vordergrund stehen. Vielmehr soll die Idee des Archivs mobilisiert werden, wie sie in den letzten Jahrzehnten von Autoren wie Hal Foster, Boris Groys, Jacques Derrida, Arlette Farge und Knut Ebeling theoretisiert wurde, um die Grotte als ambivalenten Ort zu begreifen, in dem Begehren und Vernunft, Erinnerung und Vergessen, konkrete Materialität und virtuelle Simulation, Kitsch und Kunst aufeinandertreffen. Demands „processo grottesco“ kann somit im Sinne Arlette Farges als Archiv (im wörtlichen und übertragenen Sinne) verstanden werden, als ein Ort, an dem Geschichte geschrieben wird „zwischen Leidenschaft und Verstand“. Das Archiv tritt hier als Grotte in Erscheinung, die Grotte als Archiv.

Kurzbiografie Alexander Streitberger
1993–1999Studium der Kunstgeschichte und Germanistik in Bamberg, Heidelberg und Paris
1999–2002Promotion an der Universität zu Köln („Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexion in der Kunst des 20. Jahrhunderts“)
2002–2005Assistent an der Universität Heidelberg
seit 2005Professor für moderne und zeitgenössische Kunst am Kunsthistorischen Institut der UCLouvain, Belgien
seit 2008Direktor des Lieven Gevaert Research Centre for Photography, Art and Visual Culture; Herausgeber der Lieven Gevaert Series
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Fotografie und Intermedialität; Fotografie, Film und Panorama; konzeptuelle Kunst; Sprachtheorie in der Kunst des 20. Jh.s
Publikationsauswahl
  • Ausdruck – Modell – Diskurs. Sprachreflexion in der Kunst des 20. Jahrhunderts, Berlin 2004.
  • (Hg. mit Jan Baetens) De l’autoportrait à l’autobiographie, Paris 2011.
  • (Hg. mit Brianne Cohen) The Photofilmic. Entangled Images in Contemporary Art and Visual Culture, Leuven 2016.
  • Staged Bodies. Mise en scène du corps dans la photographie postmoderniste, Gent 2020.
  • Psychical Realism. The Work of Victor Burgin, Leuven 2020.