Sektion 5: Pariser Stadt-Bild-Raum-Geschichten
Mira Claire Zadrozny, Jena
Rurale Ruinenbilder. Bild-Raum-Zeit-Strukturen in Pariser Ausstellungen des Second Empire
1855 zeigt Gustave Courbet auf der Exposition Universelle ein Gemälde mit dem Titel „Château d’Ornans“. Es ist nicht nur Fragment seiner großangelegten Bildzusammenstellung, die der Künstler sich für diese erste Pariser Weltausstellung ursprünglich erdacht hatte, das Fragment zeigt sich auch im Motiv, denn dargestellt ist neben der Landschaft und dem Dorf aus Courbets Heimat in der Franche-Comté auch der ruinöse Überrest des titelgebenden Schlosses. Eine Dekade später, 1868, präsentiert der romantische Landschaftsmaler Paul Huet ein Gemälde auf dem Salon, das die bekannte und als Bildmotiv seit langem populäre Ruine des Château de Pierrefonds zeigt. Verwunderlich, hatte der Künstler im Jahr zuvor doch dasselbe Schloss zum Sujet gekürt, damals jedoch in einer vollständig restaurierten Variante, die den Plänen Eugène Viollet-le-Ducs entsprach, der zu diesem Zeitpunkt im Begriff ist, das Château de Pierrefonds im Auftrag Napoleons III. als kaiserliche Residenz wiederaufzubauen. Ihre Wirkmacht entfalten all diese Gemälde erst dank ihres Präsentationskontextes: Sowohl die Exposition Universelle de 1855 als auch der Salon ermöglichen das publikumswirksame Zeigen. Zugleich sind die Ausstellungen eingebettet in eine Stadtarchitektur, die in dieser Zeit stetem Wandel unterliegt. Denn der großflächige Umbau von Paris unter Georges-Eugène Haussmann bringt Abrissruinen hervor, die das Stadtbild prägen und durch ihr ephemeres Erscheinungsbild, ihr massenweises Auftreten und ihre mutwillige Herbeiführung charakterisiert sind. In ihrer Temporalität stehen diese Ruinen damit gänzlich konträr zu denen, die Courbet und Huet zur Schau stellen.
Der Vortrag spürt diesen Verflechtungen von Stadtraum, institutionalisiertem Ausstellungsraum und Bild nach und fragt, welches Rezeptionsangebot sich durch die Präsentation dieser anderen Ruinenbilder eröffnet und welche Rolle dem Salon bzw. der Weltausstellung dabei zukommt. Hierzu verbindet die Analyse Theorien raumbildender Prozesse mit einer (temporalen) Rezeptionsästhetik sowie geschichtstheoretischen Konzeptionen von Zeitlichkeit. Die Untersuchung beschränkt sich auf das Second Empire und damit auf eine Zeit, die in besonderem Maße Architekturen und Bilder als Mittel der Legitimierung nutzte. Umso bedeutender scheint es, die Rolle von Stadtraum sowie Kunstproduktion und -präsentation zu hinterfragen, um augenfällige wie auch latente Strukturen einer politischen Kritik offenzulegen.
Kurzbiografie Mira Claire Zadrozny
2013–2019 Studium der Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Bochum, Bielefeld und Amsterdam
seit 2019 Wiss. Mitarbeit am Seminar für Kunstgeschichte und Filmwissenschaft und assoziiertes Mitglied des DFG-GRK „Modell Romantik“ an der Friedrich-Schiller-Universität Jena
seit 2019 Promotionsstudium an der Friedrich-Schiller-Universität Jena (Dissertationsprojekt: „Ruinenbilder. (Neues) Vergleichendes Sehen im Paris der Mitte des 19. Jahrhunderts“)
2022 Forschungsaufenthalt am Deutschen Forum für Kunstgeschichte Paris
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte
Französische Malerei und Druckgrafik des späten 18. und 19. Jh.s;
Dimensionen des Zeitlichen in den Bildkünsten;
vergleichendes Sehen (unter besonderer Berücksichtigung des Einzelbildes)
Publikationsauswahl
- Stadt-Fragmente. Eugène Atgets fotografische Dokumentationen des vieux Paris, in: archimaera 10 (2023), S. 33–44.
- (mit Christin Neubauer) Der begrenzte Blick. Potentialitäten der Rezeptionsästhetik im Geschichtsunterricht, in: Frank Britsche und Lukas Greven (Hgg.): Visual History und Geschichtsdidaktik. (Interdisziplinäre) Impulse und Anregungen für Praxis und Wissenschaft, Frankfurt a. M. 2023, S. 145–155.
- (Hg. mit Elisabeth Ansel, Johannes Grave und Christin Neubauer) Picturing the Romantic: New Perspectives on European Romanticism(s) in the Visual Arts (in Vorbereitung).