Sektion 3: Realismus als Formproblem
Donnerstag, 24. März 2022, 15:30–16:00 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Gerrit Walczak, Berlin

Schwierige Scharaden: Realismus, Form und Formalismus in der frühen DDR

Auf „Kunst fortschrittlicher Art“ solle der sozialistische Realismus sich stützen, forderte 1953 Brecht, dieser könne nicht bloß „nach dem Muster der Klassiker gemacht“ werden. Nirgends wurden Formprobleme mit der gleichen sanktionsbewehrten Schärfe angegangen wie in der frühen DDR. Diese setzte eine schon vor ihrer Gründung von der sowjetischen Militäradministration initiierte, zehn Jahre zuvor bereits einstudierte Kampagne gegen die „Hieroglyphen des Formalismus“ und für einen Abbildrealismus fort, der ausdrücklich national kodiert war – weshalb man nicht Courbet oder die Peredwischniki, sondern Menzel und Leibl auf den Sockel hob. Der Tod Stalins und die Krise des 17. Juni aber sorgten für eine Tauwetterperiode, die zwischen 1953 und 1959 die experimentelle Verbindung von sozialistischem Realismus und gegenständlicher Moderne ermöglichte: Rekurse auf Beckmann und Picasso wurden als „schwierige Scharaden“ (wiederum Brecht) beargwöhnt, doch nicht mehr durch Repression geahndet, bis mit dem Bitterfelder Weg wieder massiver Zwang einsetzte. Dass ein Werner Tübke 1954 Realismus für einen Begriff halten konnte, „unter dem jeder Künstler etwas anderes versteht“, setzte das untypische Ausbleiben kunstpolitischer Direktiven voraus.

Gehört der Abbildrealismus zu den stalinistischen Hypotheken der Kunst der DDR wie zum (un-)heimlichen Kapital der späteren Leipziger Schule, so ist das Zeitfenster ab 1953 in komplementärem Verhältnis zu betrachten. Was die Kunst dieser kurzen Zwischenphase von der ab 1971 proklamierten „Weite und Vielfalt“ unterschied (noch einmal Brecht, aber durch Honecker zitiert), war die noch ungebrochene Hoffnung, den sozialistischen Realismus im Schulterschluss mit den Kunstbürokraten der SED modernisieren zu können. War der modernisierte Realismus ein prekäres Ausgleichsprodukt, dessen Bedingtheiten einen zweifachen documenta-Besucher wie Gerhard Richter dennoch außer Landes trieben, so geriet die kurze poststalinistische Moderne der DDR schließlich durch die Maßregelung, wenn nicht Brechung ihrer Protagonisten selbst dann ins Vergessen, wenn diese es später zu hofierten Staatskünstlern bringen sollten – erst der Rückzug auf Courbet und Corinth etwa ermöglichte die Karriere des künftigen ZK-Mitgliedes Willi Sitte, der den „Formalisten“ Picasso und Guttuso öffentlich hatte abschwören müssen.
Kurzbiografie Gerrit Walczak
2000Promotion an der Universität Hamburg („Dietrich Ernst Andreae (um 1695–1734): Monographie und Werkverzeichnis“)
2001–2006Co-Autor des Katalogs der Alten Meister der Hamburger Kunsthalle (mit Martina Sitt)
2003–2006Hamburger Länderstipendiat am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München
2008–2011Lecturer an der Universität zu Köln
2009Habilitation an der Universität Hamburg („Bürgerkünstler: Künstler, Staat und Öffentlichkeit im Paris der Aufklärung und Revolution“)
2012Lehrstuhlvertretung an der Ruhr-Universität Bochum
2012–2014Eigene Stelle (DFG) an der Technischen Universität Berlin (Projekt „Artistische Wanderer: Die Migration von Künstlern in Zeiten der Revolution und des Krieges, 1789–1815“)
2015–2016Wiss. Mitarbeiter an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz
2016–2018Lehrstuhlvertretungen an der Universität Greifswald und der Universität zu Köln
seit 2020Redakteur der „Zeitschrift für Kunstgeschichte“
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Migration von Künstlern; Praktiken des Porträts; Kunstakademien, Ausstellungen, Staat und Öffentlichkeit; französische Malerei des 18./19. Jh.s; niederländische Malerei des 17. Jh.s
Publikationsauswahl
  • Elisabeth Vigée-Lebrun. Eine Künstlerin in der Emigration 1789–1802 (Passerelles 5), Berlin/München 2004.
  • Bürgerkünstler. Künstler, Staat und Öffentlichkeit im Paris der Aufklärung und Revolution (Passagen 45), Berlin/München 2015.
  • Gerard ter Borch’s Unknown Oil Miniature of the Duke of Longueville, in: The Burlington Magazine 159 (2017), H. 1367, S. 109–116.
  • Artistische Wanderer. Die Künstler(e)migranten der Französischen Revolution, Berlin/München 2019.
  • Gun Tape Footage. Zur technischen Videografie des Krieges aus der Luft, in: Ursula Frohne, Lilian Haberer und Annette Urban (Hgg.): Display | Dispositiv. Ästhetische Ordnungen, München 2019, S. 607–623.