Sektion 9: Exzentrische Abstraktion, Anti-Form, Post-Minimalismus, informe und ihre Relektüren
Freitag, 25. März 2022, 9:15– 9:45 Uhr, K2, Hörsäle 17.17 & 17.12
Leena Crasemann, Hamburg / Anne Röhl, Siegen

Nach „Primary Structures“. Textile Ausformungen, 1966–71

Lucy Lippards Ausstellung „Eccentric Abstraction“ und Robert Morris’ Deklaration der Anti-Form wurden in der Vergangenheit vielfach als „weicher“ Gegenpart des mit der Ausstellung „Primary Structures“ kanonisierten US-amerikanischen Minimalismus dargestellt. Die dem Post-Minimalismus zugesprochene Weichheit oder gar Formlosigkeit ist mit dem Einsatz textiler Materialien verbunden (Eva Hesse oder Frank Lincoln Viner in Eccentric Abstraction, Morris’ Filze). Unter dem Titel „Primary Structures“ wurde im Jahr 1966 aber nicht nur der bekannte Ausstellungskatalog publiziert, sondern auch Irene Emerys Überblickswerk „The Primary Structures of Fabrics“. Emerys Klassifikation basiert auf den Ergebnissen ihrer langjährigen Arbeit am Textile Museum in Washington, D.C. Innovativ ist der universalistische Ansatz, der indigene, handgearbeitete und maschinell produzierte Textilien gleichermaßen umfasst. Die Konzentration auf die strukturellen Bedingungen der Herstellungsprozesse ermöglicht ihr, ähnlich wie auch Anni Albers im ein Jahr zuvor publizierten „On Weaving“, textile Techniken unabhängig von geografischen und kulturellen Zuordnungen zu betrachten.

Bisher von der Kunstgeschichte kaum rezipiert, steht Emerys Buch neben Albers’ Publikation für die ethnologische und systematische Beschäftigung mit Textilien, die in den 1960er und 1970er Jahren allgegenwärtig war, beispielsweise auch in der Fiber Art, die parallel zum Minimalismus einen „Ausstieg aus dem Bild“ (L. Glozer) vollzog. Der Vortrag nimmt die historische Koinzidenz einer Beschäftigung mit Textilien unter den Überschriften „Eccentric Abstraction“ und „(The) Primary Structures“ zum Ausgangspunkt, um durch eine Scharfstellung auf das Textile die bisherige Gegenüberstellung von Minimialismus und Post-Minimalismus bzw. Anti-Form einer Revision zu unterziehen. Hierzu wird auf neuere Forschung zur Rolle von Textilien in der US-amerikanischen Kunst der 1960er Jahre (G. Adamson, E. Auther, J. Bryan-Wilson, T. Smith) aufgebaut. Das Textile zeigt sich dabei als produktive Matrix, um tradierte Oppositionen der Begriffe Form und Formlosigkeit infrage zu stellen.
Kurzbiografie Leena Crasemann
2001–2008Studium der Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Berlin und Pisa
2008–2010Wiss. Mitarbeiterin am SFB „Kulturen des Performativen“ an der Freien Universität Berlin
2012Promotion in Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin
2012–2014Wiss. Mitarbeiterin im SFB „Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste“ an der Freien Universität Berlin
2015–2017Wiss. Mitarbeiterin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg
2017/18Gastprofessorin am Kunstgeschichtlichen Seminar der Universität Hamburg
seit 2018Wiss. Mitarbeiterin im Forschungsverbund „Bilderfahrzeuge – Aby Warburgs Legacy and the Future of Iconology“ am Warburg-Haus Hamburg
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Künstlerische Fotografie der Gegenwart; Geschichte und Theorie der Fotografie; textile Architektur; textilbasierte Kunst des 20./21. Jh.s
Publikationsauswahl
  • Textile Rekonfigurationen des Spinnennetzes: Zum Verhältnis von Form und Material in Stoffmustern und Fadeninstallationen Anfang des 20. Jahrhunderts, in: Burcu Dogramarci (Hg.): Textile Moderne, Wien/Köln/Weimar 2019, S. 71–81.
  • (Hg. mit Anne Röhl) Hard-pressed – Textilien und Aktivismus, 1990–2020, FKW // Zeitschrift für Geschlechterforschung und Visuelle Kultur 68 (2020).
  • Unmarkierte Sichtbarkeit? Weiße Identitäten in der zeitgenössischen künstlerischen Fotografie (Berliner Schriften zur Kunst), München 2021.
Kurzbiografie Anne Röhl
2005–2010Studium der Kunst, Kunstgeschichte und Anglistik an den Universitäten Siegen und Southampton
2012–2016Wiss. Mitarbeiterin im ERC- und SNF-Projekt „TEXTILE – An Iconology of the Textile in Art and Architecture“ an der Universität Zürich
2016 Juliane-und-Franz-Roh-Stipendiatin zur Kunst der Moderne und Gegenwart am Zentralinstitut für Kunstgeschichte in München
2018Promotion am Kunsthistorischen Institut der Universität Zürich („Entanglements. Genderdiskurse textiler Handarbeiten, Bilder, Techniken“)
seit 2017Wiss. Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Universität Siegen
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Textile Medien in Kunst und Populärkultur; künstlerische Materialien und Techniken; Praktiken der Kunstausbildung im 20. und 21. Jh.; Genderfragen der Kunstwissenschaft
Publikationsauswahl
  • (Hg. mit Anika Reineke, Mateusz Kapustka und Tristan Weddigen) Textile Terms. A Glossary, Berlin 2017.
  • Von Elektronen als Fäden: Über den (un-)zeitgemäßen Einsatz textiler Handarbeit in den Videoarbeiten von Beryl Korot und Stephen Beck, in: Magdalena Bushart, Henrike Haug und Stefanie Stallschus (Hgg.): Unzeitgemäße Techniken, Berlin 2019, S. 221–44.
  • Loomings, in: Lafayette Anticipations (Hg.): Hella Jongerius. Interlace, textile research, Ausst.-Kat. Paris, Köln 2019, unpaginiert.
  • Entanglements. Genderdiskurse textiler Handarbeiten, Bilder, Techniken (erscheint Ende 2021; zugl. Diss. 2018).