Sektion 5: Vergleichen und deuten: Semantiken der Form
Samstag, 26. März 2022, 12:15–12:45 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Astrid Zenkert, Stuttgart

Tintorettos Pinselstrich. Rezeptionsgeschichtliche Überlegungen zur Deutung der Faktur als Form

Kaum ein anderes Formelement lässt sich so leicht nur als Form verstehen wie der Pinselstrich. Bietet er sich deshalb so zur ideologischen Aufladung an, weil er als kleinste Einheit malerischer Form zur Herauslösung aus komplexen Gestaltungszusammenhängen einlädt?

Die Kontroversen um Tintorettos lockere Malweise lassen sich als Lehrstück über die Dynamik und Problematik isolierter Formbetrachtung lesen. Ausgerechnet bei ihm, dessen Kunst kompositorische und konzeptionelle Zusammenhängen über ganze Säle und Gebäudekomplexe zu spannen vermag, wurde die Pinselführung zum Kristallisationspunkt erbitterter Debatten um den Wert seiner Malerei.

Vasari sieht in seiner skizzenhaften Faktur eine provokante Missachtung der Malkunst, die er zusätzlich durch die Unterstellung ökonomischer Motive zu diskreditieren sucht. Literaten aus dem Kreis der venezianischen poligrafi hingegen feiern sie als Ausdruck einer spezifischen venezianità, als malerisches Äquivalent zur nachlässigen Schnelligkeit des venezianischen Dialekts. Ridolfi stilisiert Tintorettos prestezza zu einer Fähigkeit, die es seinem Pinsel erlaubt, den Bewegungen seines raschen Geistes zu folgen.

In den Kontroversen um Tintorettos Faktur zeichnen sich Frontlinien einander entgegengesetzter Kunstauffassungen ab, die sich bis in die weltanschaulichen Differenzen zwischen den ersten Vertretern der universitären Kunstgeschichte fortsetzen. Die Befürworter des Impressionismus sehen in Tintorettos offener Malweise die Flüchtigkeit von Bewegungen eingefangen, die Verfechter des Expressionismus deuten sie als spontanen Ausdrucksgestus und führen sie gleichermaßen gegen ihre naturalistisch wie ihre realistisch orientierten Widersacher ins Feld. Wenn moderne Publikationen ganze Bildbände mit Detailaufnahmen füllen, die wie abstrakte Gemälde erscheinen und Tintorettos Faktur als Emanzipation der Malerei von mimetischen Funktionen rühmen, ist das nicht minder ideologisch.

Demgegenüber gilt es aufzuweisen, wie die hier polemisch verabsolutierten Deutungsaspekte, seien sie kunstgeografischer oder kunsttheoretischer, psychologischer oder ökonomischer Natur, miteinander verflochten sind. Vor allem aber gilt es, Tintorettos offene Faktur weniger als Ausfluss einer Haltung denn als flexibles Gestaltungsmittel zu verstehen, das er je nach Bildthema (mythologisch oder religiös), aber auch innerhalb einzelner Bilder in völlig unterschiedlichen Intensitäten und zu unterschiedlichen Zwecken einsetzt.
Kurzbiografie Astrid Zenkert
ab 1986Studium der Kunstgeschichte, Philosophie und Romanistik in Tübingen und Heidelberg (Stipendiatin der Studienstiftung des deutschen Volkes)
1995Forschungsaufenthalt in Venedig
1998Promotion an der Universität Tübingen („Tintoretto in der Scuola di San Rocco. Ensemble und Wirkung“)
1996–2020Lehraufträge an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg und der Universität Stuttgart
seit 2020Wiss. Mitarbeiterin am Institut für Kunstgeschichte der Universität Stuttgart
ab 4/2022Gastprofessur am Institut für Kunstwissenschaft und Historische Urbanistik der TU Berlin
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Venezianische Malerei des 16. Jh.s; mediale und rhetorische Aspekte frühneuzeitlicher Gartenkunst; Erfahrungssteuerung durch komplexe Raum- und Bildsysteme; Wasser als Gestaltungsmittel; höfische Repräsentationskultur
Publikationsauswahl
  • Tintoretto in der Scuola di San Rocco. Ensemble und Wirkung, Tübingen 2003.
  • The Owl and the Birds. Speeches, Emblems, and Fountains, in: Paul J. Smith und Karl Enenkel (Hgg.): Emblems and the Natural World (Intersections Vol. 41), Leiden 2017, S. 548–610.
  • Die materielle Kultur der venezianischen Rochusbruderschaft. Reliquien, Regeln, Rituale und ihre Synthese in der Malerei, in: Andreas Tacke, Birgit Ulrike Münch und Wolfgang Augustyn (Hgg.): Material Culture, Petersberg 2018.
  • Captatio mit Lockvogel. Rhetorischer Eros im Garten der Frühen Neuzeit. Tivoli – Versailles – Schwetzingen, in: Die Gartenkunst 2/2018, S. 203–242.
  • Zauber und Transparenz. Mediale Perspektiven der Gartenkunst, in: Stefan Laube und Urte Helduser (Hgg.): Medium und Magie (Themenheft der Zeitschrift „Das achtzehnte Jahrhundert“), 2019.