Sektion 5: Vergleichen und deuten: Semantiken der Form
Samstag, 26. März 2022, 11:30–12:00 Uhr, K2, Hörsaal 17.01
Sabine Mainberger, Bonn

„Draw a Line and Read It.“ Überlegungen zu einer interkulturellen Liniensemantik

Fragen der „Formensemantik“ betreffen in bestimmten Kontexten auch eine einzelne Linie. In der europäischen Geschichte des Nachdenkens über bildende Kunst und Künste generell ist eine solche immer wieder zum Anlass geworden, grundlegende Fragen des künstlerischen Tuns aufzuwerfen und Problematisierungen von Praxis, Werk, Autorschaft, Kunstsystem u. a. vorzunehmen. Denn an der einen eminent „feinen“ Linie erkennt man den unverwechselbaren Urheber; an nur einer skizzenhaften Linie oder am schlichten Kreis erahnt man die Reichweite einer Meisterschaft; an der einen anstrengungslos gezogenen Linie offenbart sich die Zugehörigkeit des Akteurs zu einer sozialen Elite, u. a. m.

In meinem Beitrag möchte ich dieser Hochschätzung einer einzigen Linie oder eines einzigen Pinselstriches in der frühneuzeitlichen Theorie nachgehen, namentlich in B. Castigliones „Libro del Cortegiano“ samt dessen Rekursen auf die Künstlerlegenden von Plinius d. Ä. Ich möchte Überlegungen zu Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer interkulturellen Kunsttheorie und Ästhetik anstellen: Ausgangspunkt dafür ist die Beziehung, die der Sinologe und Philosoph François Jullien zwischen Bemerkungen von Plinius zur Skizze, Castigliones Lob der „linea sola non stentata“ (ebd., I. 28) und chinesischer Pinselkunst herstellt. Europäische und chinesische Kunst haben demnach in der mit leichter Hand gezogenen Linie bzw. dem spontan gesetzten Pinselstrich einen Konvergenzpunkt. Ihre ästhetischen Ideale treffen sich, so steht zu vermuten, in etwas, was die europäische Theoriebildung unter dem vieldeutigen und kaum definierbaren Begriff grazia und dem unübersetzbaren Neologismus sprezzatura zu fassen sucht. In der chinesischen künstlerischen Praxis und ihrer Reflexion scheint es dazu ein Pendant zu geben. Schließlich möchte ich ein Beispiel analysieren, in dem sich – meiner „Lesart“ nach – der westliche und der östliche „Kult“ der einen Linie amalgamieren und einer simplen Linie eine extreme semantische Dichte verleihen.
Kurzbiografie Sabine Mainberger
2000Habilitation in Allgemeiner und Vergleichender Literaturwissenschaft an der Freien Universität Berlin
2000–2010div. Vertretungen und Gastprofessuren sowie Forschungsstipendium der DFG
seit 2010Professorin für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Bonn
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Linienpraktiken und -diskurse; Künste und Anthropologie der Gabe; Graphismen; Kunsttheorie und Ästhetik; Literatur und Künste
Publikationsauswahl