Sektion 7: Textile Inszenierungen und Raumdramaturgien
Friederike Quander, Paderborn

Verknüpfungen von Weltzeit, Weltraum und Kirchenraum

Baldachine und Vorhänge dienen der Auszeichnung dessen, was sich darunter, dahinter bzw. davor befindet: Es ist wertvoll und bedarf des Schutzes, zum Beispiel vor der Sonne oder vor Blicken. In Kirchen schaffen sie einen Raum im Raum. Sie beschirmen und exponieren das Allerheiligste zugleich. Im biblischen Kontext laden die Textilien zu Vergleichen mit dem Himmelszelt (Jes 40, 22), dem Zeltheiligtum (Ex 26) oder dem Zelt als Wohnstätte für Gott und die Menschen im Neuen Jerusalem (Offb 21, 3) ein. Dabei birgt insbesondere das Zeltheiligtum Potenzial für Interpretation, ist es doch der Vorgängerbau einer jeden Kirche.

Der sogenannte Schöpfungsteppich in der Kathedrale von Girona vom Ende des 11., Anfang des 12. Jahrhunderts diente wohl als Baldachin oder als Vorhang für den Hauptaltar (Bracons Clapés 2000, S. 124–125). In der Mitte der Stickerei erscheint in einem Medaillon der Schöpfergott, umgeben von den Tagen der Schöpfung. Ähnliche Darstellungen kennt man z. B. aus dem Markusdom in Venedig. Doch während in Venedig der Fokus allein auf der Schilderung der Schöpfung liegt, erweitert die Stickerei in Girona ihre Darstellung um einen bedeutenden Aspekt: Der Beginn der Welt wird kartografisch eingebunden, indem das Rund von den vier Winden umgeben wird. Das Textil schafft also nicht nur einen physischen Raum, sondern proklamiert auch einen gedanklichen Raum, den Weltraum. Eben jene Darstellung der vier Winde findet sich in den Weltkarten der Apokalypse-Handschriften, die den Kommentar des Benediktinermönches Beatus von Liébana enthalten. Auch die anderen Teile der Stickerei verschränken Zeitkonzepte (Wochentage, Monate, Jahreszeiten) mit kartografischen Verortungen (irdisches Jerusalem, Paradiesströme).

Der Vortrag möchte die These prüfen, dass diese Verschränkung von Weltzeit und Weltraum von der Exegese des Beatus von Liébana und der Gestaltung der Beatus-Kodizes beeinflusst ist. Die Weltkarten aus dem 10. Jahrhundert stehen im Zeichen der Verbreitung des christlichen Glaubens und assoziieren die Ausdehnung der Welt mit der Dimension der Zeit. Der Weltraum wird in einen eschatologischen Kontext gestellt. Besonders die politischen Dimensionen der Darstellung sind von Interesse. Die vier Paradiesströme in den Ecken der Stickerei (nur der Geon ist erhalten) verkünden ein Reich, das bis zu den Enden der Welt und darüber hinaus ausgreift (vgl. Dokin 2008, S. 217). Dem Missionierungsgedanken wohnt immer auch ein Eroberungsgedanke inne.

Kurzbiografie Friederike Quander
2013–2017 Bachelorstudium der Kunstgeschichte, Indologie und Germanistik in Hamburg
2015 Auslandssemester an der Università degli Studi Roma Tre, Rom
2016Praktikum bei den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden
2017–2021 Masterstudium der Kunstgeschichte in Hamburg
2017Praktikum am Deutschen Forum für Kunstgeschichte in Paris
2017 Mitarbeit bei der Ausstellung „Mutter Erde. Vorstellungen von Natur und Weiblichkeit in der Frühen Neuzeit“ der Kunstsammlung der Georg-August-Universität Göttingen
2019Teilnahme am innerdeutschen Austauschprogramm PONS: Studiensemester am Kunsthistorischen Institut der Freien Universität Berlin
2019Journalistische Hospitanz im Feuilleton der ZEIT, Hamburg
2021–2023Wiss. Volontariat an der Kunsthalle Bremen
seit 2023Wiss. Mitarbeit an der Universität Paderborn
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Ikonografie und visuelle Exegese der Johannesoffenbarung; spätantike und mittelalterliche Weltkarten; Text-Bild-Beziehungen mittelalterlicher Buchkunst; Geschlechterbilder in der Druckgrafik der Frühen Neuzeit; Malerei und Fotografie des Surrealismus und der Neuen Sachlichkeit
Publikationsauswahl
  • Nat(H)uren, in: Maurice Saß und Iris Wenderholm (Hgg.): Mutter Erde. Vorstellungen von Natur und Weiblichkeit in der Frühen Neuzeit, Ausst.-Kat. Göttingen, Petersberg 2017, S. 198–203.
  • Sneak Preview: Der Vorhang fällt – Die Apokalypse-Handschrift des J. Paul Getty Museums, in: Louis Berger, Alexander Schnickmann und Hajo Raupach (Hgg.): Leben am Ende der Zeiten. Wissen, Praktiken und Vorstellungen der Apokalypse, Frankfurt a. M. 2021, S. 40–74.
  • Die schwarze Sonne der Melancholie. Von Apokalypsen, Untergängen und Sonnentoden, in: Annett Reckert (Hg.): Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne, Ausst.-Kat. Bremen, Berlin 2022, S. 240–246.