Sektion 10: Bilder und Architekturen als transkulturelle Aushandlungsräume
Alessa Paluch, Greifswald

Visual fabric – Njideka Akunyili Crosbys Bildpraxis der verwobenen Bedeutungen

Die zeitgenössische Künstlerin Njideka Akunyili Crosby arbeitet in ihren großformatigen Gemälden mit zwei expliziten Bildebenen bzw. -räumen: Die vordergründigen narrativen Szenen – oft Paarkonstellationen in wohnlichen Innenräumen – sind unterlegt mit einer zweiten, subtileren Bildebene, die aus in einem Transfer-Verfahren auf die Leinwand aufgebrachten kleinteiligen Fotografien besteht. Bei diesen handelt es sich um vorgefundenes Bildmaterial sowohl aus Akunyili Crosbys Privatbesitz als auch aus dem nigerianischen kulturellen Bildrepertoire. So finden sich bei genauerem Hinsehen Porträts nigerianischer Popstars neben solchen der Familie der Künstlerin. Während die vordergründigen, figürlichen Szenen meist Assoziationen zu häuslichen Situationen und intimen Momenten heraufbeschwören, liefern die subtil auf Vorhänge, Teppiche und Kleider transferierten Fotografien eine zweite Bedeutungsebene, die hier als visual fabric bezeichnet werden soll und die das Bildverständnis der Betrachtenden sowohl ein- als auch enthüllt – je nach Lesefähigkeit der kulturellen Zeichen. Durch das Aufbringen der Transfers auf vor allem als Textilien zu lesende Bildflächen werden kollektives Gedächtnis und kulturelle Identität in den Werken Akunyili Crosbys verstofflicht. So wird der Bildraum bevölkert von Figuren, denen man den Stoff, aus dem sie gemacht sind, auf Kleidung und Haut ablesen kann. Die auf diese Weise fotografisch-dokumentarisch überschriebenen textilen Oberflächen werden so wortwörtlich zu Bedeutungsträgern.
Die Verbindung der bildimmanenten textilen Anteile mit den leicht transparenten Fotografien sowie deren konkrete Rückbindung an den (Bild-)Raum verweben sowohl die Gegenwart der figürlichen Szene mit der Vergangenheit der Ahninnen und kulturellen Ikonen auf den verwendeten Fotografien, das Hier und Jetzt der Diaspora mit dem Dort und Dann der fernen Heimat als Sehnsuchtsort, als auch die Bildbetrachtenden mit dem materiellen Bildraum. Themen wie Migration, Heimat, Tradition und Familie lassen sich so durch die visuelle (Un-)Lesbarkeit von Zeichen in ihrer Komplexität verhandeln.

Dieser Vortrag analysiert die künstlerische Praxis Akunyili Crosbys, arbeitet die Komplexität der visual fabric heraus, kontextualisiert sie mit ähnlichen (künstlerischen) Bildpraxen und folgt der These, dass die Verwobenheit der verschiedenen Bildräume, -stofflichkeiten und Materialien als adäquater Ausdruck diasporischer Erfahrungen lesbar ist.

Kurzbiografie Alessa Paluch
2003–2010Studium der Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft in Leipzig (Magisterarbeit: „Hotelräume – Theaterräume: Raumtheoretische Analysen zeitgenössischer deutscher Theaterproduktionen“)
2006Praktikum in der Bildredaktion und Mitarbeit im Verlag von Texte zur Kunst, Berlin
2009–2010Verlagsleitung des Lubok Verlag – Originalgrafische Künstlerbücher, Leipzig
2011–2021Promotionsstudium in Theaterwissenschaft an der Freien Universität Berlin („Nicht-ikonische Bilder – Definition und Praxis“)
2013–2020Lehrauftrag im Programm „Berlin Perspectives“ des bologna.lab an der Humboldt-Universität zu Berlin
seit 2020Wiss. Mitarbeit am Caspar-David-Friedrich-Institut der Universität Greifswald
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Visual Culture Studies; künstlerische Bildpraktiken der Gegenwart; Objets trouvés / vorgefundenes Bildmaterial
Publikationsauswahl
  • Nicht-ikonische Bilder. Herrschaftskritische Perspektiven auf zeitgenössische Bildkulturen, Bielefeld 2022.