Sektion 7: Textile Inszenierungen und Raumdramaturgien
Sandra Neugärtner, Lüneburg

Von der Renaissance-Perspektive zur Axonometrie: Textile Raumkonzeptionen

Der „Plan Voisin“ von Le Corbusier aus dem Jahr 1925 markiert einen Wendepunkt in der infrastrukturellen Logik der Stadtplanung. Die neue Darstellungstechnik folgt dem Moderne-Prinzip der Serialität, wobei sie eine stringente Abkehr von der vormodernen Renaissance-Perspektive impliziert. Lissitzkys Raumkonzeptionen und Hilberseimers Stadtentwicklungspläne zeigen, wie das neue Visualisierungsverfahren – die Axonometrie – ein neues Raumdenken evozierte. Das axonometrische Verfahren war allerdings nicht nur Architekten, Urbanisten und Ingenieuren vorbehalten. Der Textilentwurf „Metro“ von Lena Meyer-Bergner (1906–1981) demonstriert, wie auch Textilkünstlerinnen ein vollkommen neues Raumverständnis vorantrieben. Das 1932 in der Sowjetunion entwickelte Textil scheint das Wahrnehmungssystem auszuhebeln. Sabeth Buchmann, Georg Vassold, T’ai Smith u. a. analysierten, dass das Textil von geradezu paradigmatischer Bedeutung für die Erneuerung des Fachs Kunstgeschichte war. Der Beitrag zeigt, dass es hierbei nicht nur um die paradigmatische Bedeutung des Flächigen ging und lotet Überschneidungen im Raumdenken im Textilen und im Städtebau aus. Welche konsequenten Erneuerungen ergaben sich aus den technokratischen, industriellen Verfahren der Moderne für das Raumdenken und die Darstellung von Raum in der zeitgenössischen Kunst und Gestaltung? Die Grundlagen für das moderne Raumdenken resultieren im Fall von Meyer-Bergner aus ihrer Ausbildung in modernistischen Darstellungstechniken am Bauhaus. Im Wintersemester 1926 besuchte sie den Kurs für Darstellende Geometrie, im Sommersemester 1927 zusätzlich den Kurs für Technisches Zeichnen. Die ebene Fläche mag ihr Denken zunächst bestimmt haben, da sie bei Paul Klee gelernt hatte, planimetrisch zu gestalten. Doch die Reduktion des Textilen auf seine Zweidimensionalität durch die Diskussion um seine Ornamentalität (vgl. Diskurse Semper, Riegl) stellt Meyer-Bergner in Frage – nicht strukturell, sondern durch den Rückgriff auf das axonometrische Verfahren. Zugleich sind die technokratischen, industriellen Strukturen der Moderne aus der Konzeption, Produktion und Logistik des Textils nicht zu vernachlässigen. Wie fungieren die textilen Entwürfe von Meyer-Bergner und anderen Protagonistinnen und Protagonisten ihrer Zeit als Beispiele für die Integration eines modernistischen Konzepts in Verbindung mit der Ablehnung der linearen Perspektive und damit eines Konzepts, das Devine Fore als „Anthropokratie“ der Renaissance bezeichnet hat?

Kurzbiografie Sandra Neugärtner
2010–2019Studium der Kunstgeschichte in Berlin und Cambridge, Kulturwissenschaften in Zürich, Volkswirtschaftslehre in Berlin und Design in Dessau
2017–2018Visiting Fellow an der Harvard University, Cambridge/USA: Graduate School of Arts and Science, Department History of Art and Architecture
2019Promotion an der Universität Erfurt („Das Fotogramm bei Moholy-Nagy als pädagogisches Medium. Von den optischen Künsten zu den optischen Medien“)
2021–2025DFG-Forschungsprojekt (Eigene Stelle) „Lena Meyer-Bergners sozial-transformativer Moderne-Begriff in den globalen gesellschaftlichen Umbrüchen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts“
seit 2022Akademische Rätin a. Z. am Lehrstuhl für Kunstgeschichte der Leuphana Universität Lüneburg
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Moderne und zeitgenössische Kunst (Theorie und Geschichte); Fotografiegeschichte und -theorie; technische und digitale Bildkulturen; künstlerische Wissensbildung; Modernekonzeptionen; Designtheorie und -geschichte
Publikationsauswahl
  • (Hg.) Statt Farbe: Licht. Das Fotogramm bei Moholy-Nagy als pädagogisches Medium, Berlin 2021.
  • From Revolution to Reformation: From the Figurative Constructivism of the Cologne Progressives to Léna Meyer-Bergner’s Isotype in Mexico as Anti-imperialist Strategy, 1920–1946, in: Benjamin Buchloh (Hg.): From Posada to Isotype, from Kollwitz to Catlett: Exchanges of Political Print Culture: Germany-Mexico, 1900–1968, Madrid 2022, S. 400–417.
  • Structure as Infrastructure: Interrelation of Fiber and Construction, in: Florian Strob (Hg.): Architect of Letters. Reading Hilberseimer (Bauwelt Fundamente 174, Edition Bauhaus 59), Basel 2022, S. 222–236.