Sektion 8: Formanalyse und Formfindung in Zeiten computergenerierter Architektur
Samstag, 26. März 2022, 12:15–12:45 Uhr, HP, Hörsaal 2.01
Mirco Becker, Hannover

Von einer Ästhetik der Kybernetik zum maschinellen Sehen – Architekturwahrnehmung als Integral visueller Komplexität

Schon während der ersten Phase der Digitalisierung in den 1960er Jahren wurde durch Manfred Kiemle ein Fundament der ästhetischen Wahrnehmung von Architektur im Kontext der Informatik gelegt. Dies bezog sich auf einen lebendigen Diskurs zwischen Philosophen um Max Bense und praktischen Kybernetikern wie Konrad Wachsmann. Obwohl es zu dieser Zeit einen regen Austausch der Ideen zwischen dem deutschsprachigen und angelsächsischen Raum gab, war die informationsbasierte ästhetische Betrachtung der Architektur nur von kurzer Dauer.

Erst um die 2000er kam ein erneutes Interesse an empirischer und quantitativer Ästhetik auf, so durch Winfried Menninghaus im Bereich der Literatur oder durch Michael J. Ostwald in der Wahrnehmung architektonischer Darstellungen. Auch wenn sich diese Methoden im Fall von Menninghaus aktueller Entwicklungen der Kognitionswissenschaften bedienen oder Ostwald moderne Verfahren der Computergrafik anwendet, gehen sie von einem ästhetischen Begriff der Intensitäten aus, wie er schon 1876 von Gustav Fechner formuliert wurde.

Eine interessante Ausnahme, die den Brückenschlag von den 1970ern in die heutige Zeit schafft, ist das Gebiet des Space Syntax, begründet von Bill Hillie. Besondere Relevanz hat es, da zahlreiche Methoden des Space Syntax auf der Analyse sich im Raum wandelnder Gesichtsfelder beruhen. Damit konvergiert dieses Gebiet mit aktuellen Entwicklungen des maschinellen Sehens, das in zahlreichen Anwendungsbereichen vorangetrieben wird. Der praktische Nutzen, den man mit diesen Entwicklungen verfolgt, ist zum einen das automatische Erstellen von räumlichen Karten zur autonomen Navigation und zum anderen ein semantisches Mapping, um die nicht-digitale Umwelt in vernetzte Systeme zu integrieren. Die zu diesen Zwecken entwickelten Bildanalyseverfahren eröffnen aber auch die Möglichkeit, in Echtzeit die visuelle Komplexität eines sich durch den Raum bewegenden Sehfeldes zu bestimmen. In der Konsequenz könnte die architektonisch-räumliche Wahrnehmung als Integral dieser Sequenz visueller Komplexität betrachtet werden. Diese schließt sowohl klassifizierbare architektonische Elemente wie auch unterschiedlichste Muster ein.

Es wäre nicht das erste Mal, dass eine technologische Entwicklung das ästhetische Grundverständnis einer Zeit prägt. Interessanterweise handelt es sich bei der aktuellen Technologie des maschinellen Sehens nicht allein um die Nachbildung, sondern auch um die Steigerung von visueller Wahrnehmung.
Kurzbiografie Mirco Becker
1996–2001 Studium der Architektur an der Universität Kassel
2001–2003Studium der Architektur, Architectural Association – Design Research Lab, London (M.Ach. Responsive Environments)
2003–2005Mitarbeiter bei Foster & Partner, Specialist Modelling Group, London, und Lehrbeauftragter an der Architectural Association, London
2005–2010Senior Associate Principal bei Kohn Pedersen Fox, Computational Geometry Group, London
2006–2008 Gastprofessor am Lehrstuhl für Digitales Entwerfen der Universität Kassel
2010–2011Mitarbeiter bei Zaha Hadid Architects, London
2012–2016Stiftungsprofessur an der Städelschule Architecture Class in Frankfurt am Main
seit 2016 Professor für Digitale Methoden der Architektur an der Fakultät für Architektur und Landschaft der Universität Hannover
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte Human Computer Interaction; digitale Fabrikation; Computational Geometry; quantitative Ästhetik in der Architektur
Publikationsauswahl
  • (mit Victor Sardenberg und Theron Burger) Matrix application processes for RoboFelt, in: Proceedings of IASS Annual Symposia, 2018.
  • (mit Jan Philipp Drude und Andrea Rossi) Project DisCo: Choreographing Discrete Building Blocks in Virtual Reality, in: Christoph Gengnagel et al. (Hgg.): Impact: Design With All Senses. Proceedings of the Design Modelling Symposium, Berlin 2019.
  • (mit Victor Sardenberg und Theron Burger) Aesthetic Quantification as Search Criteria in Architectural Design, in: eCAADe SIGraDi 2019 – Architecture in the Age of the 4th Industrial Revolution Bd. 1, 2019.