Sektion 6: Räume des NS in der Demokratie: Leerstelle, Aneignung, Umnutzung oder Lernort?
Dörte Wetzler, Weimar / Christiane Wolf, Weimar
Zwischen Pragmatismus und Reflexion. Zur Nachnutzung des Weimarer Gauforums
Weimar gilt üblicherweise als Inbegriff der deutschen Klassik und als Kulturstadt schlechthin. Als ehemalige Hauptstadt des „Mustergaus“ Thüringen prägen Weimar jedoch auch zahlreiche Projekte einer ambitionierten NS-Baupolitik. Das ehrgeizigste von diesen stellt das sogenannte Gauforum dar. Ab 1936 errichtet, sollte es nicht nur repräsentativer Sitz der Partei- und Regierungsorgane Thüringens sein. Vielmehr zielte seine Anreicherung mit kultisch überhöhten Räumen auf die Schaffung eines gewissermaßen steingewordenen Ausdrucks nationalsozialistischer Staatsstruktur und Ideologie. Geplant und bis Kriegsende zu weiten Teilen realisiert war ein Komplex aus vier axialsymmetrisch um einen rechteckigen Aufmarschplatz gruppierten Großarchitekturen: im Süden die Gauleitung und Reichsstatthalterei mit Glockenturm, im Westen die Deutsche Arbeitsfront, im Osten der Sitz der NSDAP und ihrer Gliederungen und im Norden die „Halle der Volksgemeinschaft“ zur kultischen Ehrung gefallener Parteimitglieder. Mit dem Ensemble schuf die NS-Elite ein neues Machtzentrum, das fortan Prototyp für sämtliche Parteizentralen im Nationalsozialismus war.
Der Umgang mit ihm bewegte sich seit Kriegsende stets zwischen den Polen von Pragmatismus und konzeptioneller Reflexion. Angesichts seiner vielgestaltigen Nachnutzungen zeigt das Weimarer Gauforum nachgerade exemplarisch die unterschiedlichen, sich je nach politisch-gesellschaftlichem Kontext wandelnden und oft simultan nebeneinander bestehenden Möglichkeiten eines Umgangs mit architektonischen Großstrukturen der NS-Zeit auf.
Jüngste Entwicklung ist die Einbindung eines Teils des Gebäudekomplexes in die museale Infrastruktur des „Quartiers der Moderne“: Wenn 2024 das Museum „Zwangsarbeit im Nationalsozialismus“ eröffnet, komplettiert es dieses neben dem 2019 eröffneten Bauhausmuseum und dem Museum Neues Weimar. Damit zeichnet sich eine spannungs- und beziehungsreiche museale Infrastruktur ab, die unterschiedliche erinnerungskulturelle Perspektiven eröffnet. Gleichwohl fordern sowohl der zugrunde gelegte Moderne-Begriff als historische Perspektivierung als auch die inhaltliche Fokussierung neuerlich dazu heraus, adäquate Umgangsweisen mit baulichen Relikten der NS-Diktatur zu reflektieren. Welche weiteren Bedeutungsdimensionen des Gebäudekomplexes werden durch diese tendenzielle Engführung marginalisiert? Wie könnten diese zusätzlich eingebunden und sichtbar werden?
Kurzbiografie Dörte Wetzler
1998–2006 Studium der Kunstgeschichte, Kunstpädagogik und Neueren Deutschen Literaturwissenschaft in Frankfurt a. M.
2008–2012 Promotionsstudentin im Exzellenzcluster „Languages of Emotion“, Freie Universität Berlin
2013 Promotion an der Freien Universität Berlin („Die Wieskirche als inszenierende Rahmung des Gegeißelten Heilands“)
2014–2016 Volontariat bei der Stiftung Thüringer Schlösser und Gärten
2016–2018 Gebietsreferentin Praktische Denkmalpflege und Inventarisation am Thüringischen Landesamt für Denkmalpflege und Archäologie
seit 2019 Stellv. Leitung der Unteren Denkmalschutzbehörde Weimar
seit 2023 Mitglied bei ICOMOS
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte
Architektur der Frühen Neuzeit;
Denkmalpflege und Bauforschung
Kurzbiografie Christiane Wolf
1986–1993 Studium der Kunstgeschichte, Volkskunde und Pädagogik in Göttingen
1994–1997 Promotionsvorhaben am Institut für Kunstgeschichte der Ruhr-Universität Bochum
1998–2003 Wiss. Mitarbeiterin an der Bauhaus-Universität Weimar / freiberufliche Tätigkeit als Ausstellungsmacherin
ab 2004 Leiterin Archiv der Moderne – Universitätsarchiv und Sammlung für Architektur, Bauingenieurwesen, Kunst und Design der Bauhaus-Universität Weimar
Forschungs- bzw. Arbeitsschwerpunkte
Architektur des Nationalsozialismus;
Stadtplanung und Architektur der DDR