Die Gastsektion der polnischen Kunsthistorikerinnen und Kunsthistoriker befasst sich mit dem Problem der Form sowohl als eines der zentralen Begriffe unserer Disziplin als auch als Wesenskern künstlerischen Schaffens. Kritisch hinterfragt werden in den Beiträgen der Begriff selbst, seine frühere und heutige Geltung, seine Anwendungsmöglichkeiten, seine Beziehung zu Gehalt und Materialität des Kunstwerks, aber auch das Verhältnis der Form zu Ideologie, Politik und Gesellschaft. Aufgegriffen wird ebenfalls der Aspekt der Zerstörung und der Rekonstruktion der Form, ihrer gesellschaftlichen Akzeptanz im Kontext des gemeinsamen Erbes und des kollektiven Gedächtnisses.
Der erste Beitrag (Bałus) stellt panoramaartig die Methodologie der polnischen kunsthistorischen Forschung dar, und zwar im Hinblick auf die Frage nach der Form, vor allem verstanden als Ausdruck des Stils. Das zweite Referat (Makała) behandelt die Wende zu formalen Untersuchungen als Strategie der polnischen Kunstgeschichte angesichts des künstlerischen Erbes der ehemaligen deutschen Ostgebiete nach 1945. Die beiden letzten Referate hingegen fragen nach der künstlerischen Form im Paradigma des Sozialistischer Realismus und bei der Aufstellung des polnischen Kunstkanons des 20. Jahrhunderts. Zum einen handelt es sich um eine Reflexion über die Aktualität der Doktrin „Form und Inhalt“ am Beispiel der polnischen Propagandamalerei der Stalinära (Tomaszewski). Im zweiten Fall werden ausgewählte Schlüsselwerke des polnischen Modernismus einer Analyse hinsichtlich der Experimente mit Form und Materie unterzogen, was ihre Progressivität zutage fördert und die Möglichkeit einer Neuinterpretation des geltenden Kanons polnischer Kunst aufzeigt (Smolińska).
Diese Beiträge verfolgen das Ziel, die polnische Kunstgeschichte zu präsentieren, deren Probleme, Herausforderungen und Tendenzen einerseits im Feld allgemeiner Phänomene angesiedelt sind, andererseits zugleich zeigen, wie das Formproblem dazu dient, spezifische und/oder regionale künstlerische Phänomene wahrzunehmen und ans Licht zu bringen, und auf welche Weise es den individuellen Rahmen des polnischen historisch-künstlerischen Diskurses absteckt. Hervorzuheben ist – worauf die beiden ersten Beiträge hinweisen –, dass es gerade die deutsch-polnische Nachbarschaft, der intellektuelle Transfer und das gemeinsame Erbe sind, die unserer Disziplin entscheidende Impulse gegeben haben und nach wie vor geben.